Balkan, Bahn, Bulgarien
Zwei Wochen mit Zug und Rucksack durch Bulgarien (2)

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Mittwoch, 23. August 2000: Sofija

Spät einschlafen - spät aufwachen. Eigentlich kein Problem, Frühstück gibt´s bis zehn, die Zimmerräumung muss bis zwölf erfolgt sein. Trotzdem sind wir um acht Uhr hellwach und lauschen ergriffen dem tosenden Straßenverkehr unter unserem offenen Fenster.

Das Frühstück wird in einem winzigen Barraum im ersten Stock eingenommen, in dem eine junge Bedienung den Laden schmeißt. Doch so einfach geht das ja nun auch wieder nicht: Erst werden wir nochmal zur Rezeption runtergeschickt, um uns dort gegen Vorlage des Zimmerausweises eine Essensmarke geben zu lassen. Damit gehen wir wieder in die Frühstücksbar, und es kann losgehen. Koooompliziert. Das Frühstück ist nicht mehr und nicht weniger als eben ein Frühstück, aber wer mag, kann sich Nachschlag in Form von Brot, Wurst und Marmelade oder einem Ei geben lassen.

Man ruft uns ein Taxi. Der sonnenbebrillte Hyundaifahrer spricht auf der ganzen Fahrt kein Wort, so sehr ist er mit Lückenspringen, Hupen, Spurwechseln, Gas geben und seltener auch Bremsen beschäftigt. Er fährt uns bis direkt vor den Hauptbahnhof, und zum Abschied gibt´s dann doch noch ein "tschau" (auf bulgarisch).

Tief unten in den Katakomben des schmuddeligen Bahnhofes geben wir unser Gepäck für 0.80 Lewa bei einer Großraumgepäckaufbewahrung ab. Die Kennzeichnung mutet recht rustikal an: man nimmt sich aus einer Holzlade im Vorraum ein Stück Papier, auf dem eine Nummer steht. Das klebt man an einem Tisch mit einer Art Siegellack irgendwo an sein Gepäck und gibt es dann der Gepäckmamsell. Die bestätigt die Annahme des Gepäckstückes mit einem weiteren Zettel, den man nun nicht mehr verlieren darf. Jedenfalls sind wir jetzt schon gespannt, wessen Gepäck wir wohl abends herausgegeben bekommen.

Anschließend wollen wir Plätze für die kommende Nacht im einzigen Zug am Tag nach Griechenland buchen. Vorsichtig fragen wir nach den Preisen für den Schlafwagen. Mit 50 DM im Zweier-Abteil wären wir dabei, meint die englisch sprechende Angestellte am internationalen Schalter. Neinnein, nicht pro Person - zusammen! 25 DM pro Nase? In Deutschland kostet ein "Double"-Platz mindestens 80 DM pro Person. Also dann - ein eigenes Schlafwagenabteil von Sofija nach Thessaloniki in Wagen 486 im internationalen Schnellzug "Transbalkan", bitte! Man gönnt sich ja sonst Nichts.

Die Newskikirche in Sofija.

Mit kleinen Rucksäcken, die wir in Dresden für zehn Mark in der Ramschabteilung eines Kaufhauses erstanden haben, setzen wir uns zu einer Erkundungsfahrt in die nächstbeste Straßenbahn. Diese ist vom Design her etwa so hässlich wie die Nacht und tendiert in Sachen Fahrkomfort gegen Null. Wir haben die richtige Linie gewählt, denn die hässliche Straßenbahn rumpelt mit uns eine Viertelstunde durch schaurige Industrievororte in nördliche Richtung und endet bezeichnender Weise vor einem Friedhof. Dieser Friedhof ist aber nicht nur Ruhestätte für tote Bulgaren, vielmehr hat man hier auch diverse Betonköpfe, also Denkmäler aus der sozialistischen Ära, eingelagert, die hier auf den Endsieg warten.

Glücklicher Weise hat man meist das Gefühl, dass Rückfahrten schneller gehen als Hinfahrten, und so befinden wir uns bald in Sofija City, die wir ja bislang nur im Dunkeln gesehen haben. Dort begegnen wir zunächst einer Straßenbahn aus Halle an der Saale, bei der man sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, etwaige Schriftzüge wie z.B. "HAVAG - die Stadtlinie" zu entfernen. Wir setzen uns in ein Straßencafé direkt an der Hauptstraße, um die Strabse auf der Rückfahrt fotografieren zu können. Leider ist sie wohl unterwegs schlafen gegangen, denn nach über einer Stunde und drei Colas haben wir zwar diverse Lehrstunden in bulgarischer Fahr"kultur" präsentiert bekommen, jedoch keinen Tatratriebwagen aus Halle.

Sofija ist ein einziges Chaos. Das Gewühl auf den Straßen konkurriert mit dem auf den Fußwegen, Häuser aus allen nur möglichen Epochen stehen mehr oder weniger einträchtig neben- oder hintereinander, es ist stickig, staubig und warm, und überall ist eine gewisse Lieblosigkeit, zum Teil auch Verfall auszumachen, was uns gestern bei Dunkelheit gar nicht so aufgefallen ist. Ob es die abgebrochenen Bordsteinkanten sind oder die Haustüren, von denen die Farbe blättert, die Löcher im Fußweg oder der Müll in den Ecken: Es funktioniert zwar irgendwie Alles, man bekommt auch Alles zu kaufen, aber manchmal wirken die westlichen Leuchreklamen an bröckelnder Fassade doch etwas sehr deplaziert. Da hat mir Plovdiv doch um Längen besser gefallen.

Trotzdem gibt es in dem ganzen Schmelztiegel aus Krach und Wärme einen winzigen Mikrokosmos gepflegter Stadt, nämlich eine kleine, kopfsteingepflasterte Fußgängerzone, wo wir in einem Antiquariat historische Postkarten u.a. aus Deutschland erstehen, und die bereits erwähnte Markthalle, in der wir in angenehmer Atmosphäre zu Mittag essen und natürlich trinken. Am offenbar einzigen Ansichtskartenstand der Stadt erstehen wir Sofija-Postkarten. Briefmarken gibt´s natürlich keine. Nur gut, dass ich mich bei der mürrischen Schalterbeamtin in Plovdiv bereits reichlich bevorratet habe.

An den laut Reiseführer wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei gelangen wir zum Präsidentenpalast und treffen dort ebenso zufällig wie gerade rechtzeitig zur Wachablösung ein. Die Wache marschiert ohne Umschweife zwischen den Passanten hindurch quer über den Platz; kein Vergleich etwa zum Procedere vor dem Buckingham-Palast, wo vorher halb London abgesperrt wird.

In einem Springbrunnen kühlen wir unter den Augen der soeben aufgezogenen Wache unsere Füße und beobachten die um uns herum agierenden Bulgaren und Bulgarinnen und zählen die Autos, die im Angesicht der Staatsmacht verkehrt herum in die vor dem Präsi-Palast vorbeiführende Einbahnstraße einfahren. Zum Abschluss besichtigen wir mit der mächtigen Newski-Kirche noch das Sofiloter Wahrzeichen.

T: Von der Reichsbahn gemeinhin als "Goldbroiler" bekannt: Baureihe 346 auf bulgarisch im Depot von Sofija.

Am Nachmittag wollen wir noch ein wenig auf Fuzzypfaden wandeln und dem Bahnbetriebswerk Sofija unsere Aufwartung und ein paar Fotos machen. Dieses liegt etwas versetzt gegenüber des Hauptbahnhofes, und der kürzeste Weg dorthin führt nun einmal quer über das Gleisvorfeld vom Hauptbahnhof. Entgegen der Warnungen in verschiedenen Postillen können wir dort völlig ungestört fotografieren, bevor wir abermals quer über die Gleise zum Hauptbahnhof zurückwandern.

Mit einer anderen Straßenbahn - ein Neubau-Tatrawagen, der nicht gar so hässlich ist - fahren wir in südliche Richtung in einen etwas schöneren Vorort, sofern man in diesem Land überhaupt von schönen Städten oder Vororten sprechen kann.

So langsam bekomme ich den Balkan-Koller. Mit Ausnahme der erwähnten Mikrokosmen wie etwa der Markthalle oder der Plovdiver Altstadt ist in diesem Land einfach Alles irgendwie verdreckt, kaputt, unvollendet, hässlich oder unbrauchbar. Kein Kantstein, der nicht irgendwo bröckelt, kein gepflegter Garten erfreut das Auge, Alles ist grau, überall sprießt Unkraut, und jedes fünfte Haus ist eine unvollendete Bauruine. Die Königin der Bauruinen ist eine mehrspurige Straßenbrücke, die sich in kühnem Schwung über eine vielbefahrene Kreuzung schwingt. Die Brücke selbst ist zwar fast fertig geworden, nicht dagegen die Zufahrtsrampen und Auffahrten, so dass über das sinnlos dastehende Bauwerk nur ein paar Fußgänger aus einer Neubausiedlung zu einem McDonald´s-Restaurant wandern. Eine Errungenschaft des Sozialismus. Wenn da nicht die zumindest in den bergigen Gegenden des Landes wirklich wunderschöne und schon fast spektakuläre Landschaft wäre, ich glaube, ich hätte mich schnurstracks nach Griechenland geflüchtet.

Aber das soll erst heute abend passieren. Zunächst begeben wir uns wieder in unsere Oase der Glücksseligkeit, in die alte Markthalle im Zentrum, zum Abendmahl. Mit Reiseproviant bewaffnet ziehen wir in der einbrechenden Dunkelheit zum Bahnhof zurück, wo wir - oh Wunder - gegen Vorlage unseres Papierfetzens tatsächlich das richtige Gepäck aus den Tiefen der Bahnhofskatakomben ausgehändigt bekommen.

Auf der digitalen und viel zu modernen Anzeigetafel in der Halle ist ein Zug nach "Solun" angeschlagen. Ankunft 22.12, Abfahrt 22.58 Uhr - und eine rote "200" hinter der Ankunftszeit. Könnte von der Zeit her unser sein, aber unser Ziel heißt Thessaloniki. Nach einigem Rätselraten finden wir heraus, dass "Solun" der bulgarische Name für Thesssaloniki ist. Also ist der Zug mit der roten 200 tatsächlich unser "Transbalkan". Naja, alles Andere hätte uns auch gewundet: Wenn ein Zug "Transbalkan" heißt und von Tschechien über Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach Griechenland fährt, darf man eigentlich erwarten, dass er es mit dem Fahrplan nicht ganz so genau nimmt. Aber gleich dreieinhalb Stunden? Da war er mit seinen 90 Minuten damals in Gorna Orjahovica noch richtig pünktlich.

Die Hoffnung, dass Wagen 486, der erst in Sofija an den bereits aus Prag - Budapest - Bukarest kommenden "Transbalkan" angehängt werden soll, bereits irgendwo zum Einsteigen bereit gestellt wird, erfüllt sich nicht. So müssen wir also die Zeit anderweitig totschlagen. Nachdem um 23.15 der letzte Zug des Tages aus Sofija abfuhr, liegt die Vermutung nahe, dass die etwa 20-köpfige, illustre Gesellschaft, welche nun noch auf den Holzbänken in der Empfangshalle ausharrt, das Klientel (oder Abholer) für unseren "Transbalkan" ist. Ein deutsches Päärchen schräg gegenüber zofft sich, weil Sie mit der Verspätung ihre Griechenlandpläne davonfahren sieht, was Ihn wiederum recht wenig beeindruckt. Ein Eingeborener älteren Semesters sprintet zur Belustigung der übrigen Gemeinde mehrmals barfuß durch die sonst fast menschenleere Bahnhofshalle, und ein geistig minderbemittelter Zeitgenosse mit Eisenbahnermütze patroulliert mit wichtiger Mine durch´s Gelände. So tropft die Zeit dahin, Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden...

Donnerstag, 24. August 2000: Sofija - Athen

Um 24 Uhr wirft uns die Transportpolizei aus der Bahnhofshalle. Wir sollen auf dem Bahnsteig weiter warten. Aber auf welchem? Der "Transbalkan" soll auf der "4" einfahren, aber es gibt ein Bahnsteig 4 und ein Gleis 4. Berlin-Lichtenberg lässt grüßen. Die Transportpolizei wird zum Freund und Helfer: Bahnsteig 2, Gleis 4. Dorthin gelangt man über mehrere Rolltreppen, von denen aber keine einzige funktioniert. Ob die das hier mit dem Rausschmeißen im Winter auch so praktizieren? Sitzgelegenheiten gibt´s auf den schmutzigen Betonwiesen der Bahnsteige keine, nicht einmal den sonst auf jeder kleineren Station zum Standard gehörenden Wasserbrunnen findet man im hauptstädtischen Hauptbahnhof. Aus der verschlossenen Bahnhofshalle plärrt eine Lautsprecherstimme gebetsmühlenartig irgendwelche Bingozahlen. Nicht mal unsere Postkarten werden wir in Ermangelung eines Briefkastens auf diesem Bahnhof los, weshalb Tilo extra noch einmal zur Post in die Stadt wandert.

Auf Gleis 5, nein: an Bahnsteig 3, Gleis 5, stellt sich eine Elektrolok mit je einem Sitz- und einem Liegewagen bereit. Will die nachher den "Transbalkan" übernehmen? Es deutet darauf hin, dass unser Schlafwagen mit der Nummer 486, der ja auch erst in Sofija angehängt werden soll und für den wir 50 Lewa gelöhnt haben, fehlen wird. Schöne Aussichten. Ich stehe wieder kurz vor einem Balkan-Koller. Ach, wären wir doch jetzt auf unserer Insel in Dolenie...

Irgendwann nachts um halb drei schiebt sich eine E-Lok mit einer wahrhaft bunten Kette aus zwölf Wagen aller Herren Länder in den sonst menschenleeren Bahnhof: Bulgaren, Rumänen, Ungarn, ein Tscheche - fehlt eigentlich nur noch ein griechischer Wagen. Wir laufen den Zug entlang, zunächst in die falsche Richtung, doch dann wird er, wo immer er die ganze Zeit versteckt war, doch angehängt: Wagen 486. "Schlafwagen?" fragt der Betreuer, als wir mit unseren Rucksäcken einsteigen. Ja, schon richtig. Wagen 486 entpuppt sich trotz seines bulgarischen Anstriches in rot-weiß sofort als waschechter ehemaliger Mitropist. "Nicht hinauslehnen" gebietet uns das Schild am Fenster, und im Abteilschränkchen raten Aufkleber der Mitropa, man solle auf seine Wertsachen achten. Dazu zwei frisch bezogene Betten, ein kleines Waschbecken im Abteil, Leseleuchten an den Betten - willkommen zuhause. Der drohende Balkan-Koller verpufft sofort!

Das deutsche Zoff-Päärchen hat sich offenbar wieder vertragen und bezieht in dem ansonsten fast leeren Schlafwagen zwei Abteile weiter Quartier. Draußen wird heftig mit unserem Zug rangiert, so dass wir bei der Abfahrt aus Sofija kurz nach drei Uhr morgens jede Minute der 3 ½ Stunden Ankunftsverspätung in Richtung Griechenland mitnehmen.

Am frühen Morgen werde ich wach. Mächtige Berge ziehen am Fenster vorbei, und von der Zugspitze zwei Wagen weiter vorne klingen vertraute Geräusche eines schwer arbeitenden Dieselmotors an mein Ohr. Irgendwo unterwegs hat Ludmilla den Zug übernommen. So rollt unsere Fuhre durch ein Flusstal der Westrhodopen südwärts: Ein der deutschen 231 baugleicher 3000-PS-Russendiesel, dahinter ein internationales und kunterbuntes Wagenensemble aus dem VEB Waggonbau Bautzen. Eigentlich hätten wir für solche Garnituren nur an die Strecke Dresden - Görlitz zu fahren brauchen... Ein paar Minuten stehe ich im Gang am offenen Fenster und genieße das optische und akustische Programm, das mir hier geboten wird, dann geht´s zurück in´s Bett.

Wir stehen in der bulgarischen Grenzstaion Kulata, als wir das nächste Mal aufwachen. Der Zöllner sammelt die Pässe ein, dann passiert erst einmal Nichts, wir stehen dumm rum, dann kommen die Pässe wieder, es geht immer noch nicht weiter, und wir schlafen wieder ein.

Wie bestellt und erst stark verspätet abgeholt: Der "Transbalkan" im griechischen Grenzbahnhof Prochamon.

Irgendwann werden wir wieder wach. Inzwischen ist es draußen helllichter Tag. Eine griechische Westernlok namens 460 hat uns die paar Kilometer über die Grenze gezogen, und wir stehen nun neben dem gepflegten Stationsgebäude von Promachonas. Das Pässeritual beginnt erneut, nun auf griechisch. Die Westernlok hat die Faxen offenbar dicke, denn sie kuppelt ab und fährt zu unserer Verblüffung kurzerhand ohne uns weiter. Wir stehen nun ohne Pässe und ohne Lokomotive irgendwo in der griechischen Feldmark. Auch draußen sind weder zoll- noch eisenbahntechnische Aktivitäten erkennbar, so dass wir uns wieder hinlegen. Einfach herrlich - so ein eigenes Wohn- bzw. Schlafzimmer im Zug, in das man sich immer ungestört zurückziehen kann, ist so etwas wie die Vollendung des gepflegten Reisens! Was kümmert einen da die Verspätung?

Irgendwann kommt die griechische Westernlok zurück, ohne dass ein ersichtlicher Grund für ihr Verschwinden erkennbar gewesen wäre. Draußen immer noch tote Hose, und so stört sich auch niemand an unseren fotografischen Aktivitäten in der kleinen Grenzstation. Dann gibt es doch mal die Pässe zurück, und obwohl wir um diese Zeit längst in Thessaloniki sein sollten, stehen wir hier blöde herum. Aber egal, wir haben Zeit und unser Schlafzimmer mit dabei. Die 2 x 25 DM waren Lew für Lew ihr Geld wert.

Um es abzukürzen: Irgendwann geht es doch weiter. Nach einem Lokwechsel versucht der neue Lokführer auf seiner niegelnagelneuen Diesellok made in Germany, von der inzwischen fünfstündigen Verspätung noch die eine oder andere Minute hereinzufahren. Unser Wagen läuft nun ganz hinten am Zug, und wir werden bei der rasanten Fahrt über die schwankenden Gleise wild hin- und hergeschüttelt, der Wagen schlägt mehrmals schlingernd bis auf die Federn durch, so dass mir echt die Muffe geht, ob da nicht noch Etwas passiert...

Um 13 Uhr kommen wir in Thessaloniki an. Ich wecke den noch oder wieder selig schlummernden Schlafwagenschaffner, um unsere Fahrkarten zu holen. Dann betreten wir griechischen und ziemlich warmen Boden. In Griechenland gibt es zwar vereinzelt auch Bauruinen und ein paar wilde Müllkippen, aber im Übrigen wirkt doch Alles ein ganzes Stück gepflegter als in Bulgarien. Selbstverständlich spricht man am Fahrkartenschalter, bei der Post und in der Bahnhofsgaststätte Englisch, und so können wir kostenlos zwei Plätze im Intercity (was für ein Begriff nach einer Woche Russentriebwagen und dreckigen Scheiben) reservieren und uns die Zeit bis zur Abfahrt in bei einem kühlen Getränk in der ebenso kühl durchgestylten Bahnhofsgaststätte vertreiben.

Der Intercity nach Athen ist ein fünfteiliger Dieseltriebzug, Baujahr 1995 in Deutschland. Er vermittelt die mit Ausnahme des Schlafwagens in der vergangenen Woche so vermisste Reisekultur. Sauberes, gepflegtes Äußeres, Teppichboden, Papierhandtücher in den Toiletten und vollklimatisiert. Auch geht er gleich tüchtig zur Sache und macht uns deutlich, dass 160 km/h und Bergpässe kein Problem für ihn darstellen. Es ist eigenartig: Nachdem auf der Landkarte hinter Österreich der wilde Osten, der Balkan beginnt, findet man hier, jenseits von Ländern wie Rumänien und Bulgarien, im Südostzipfel Europas wieder gewohnte Standards. Die EU macht´s möglich.

Die EU dürfte auch bei der in weiten Teilen völlig neu und völlig schnurgrade ausgebauten Strecke nach Athen ein paar Aktien im Spiel gehabt haben. Jedenfalls ist das Gezockel von 1987, als meinereiner mit Inter-Rail im "Hellas-Express" in achtstündiger Fahrt über eine eingleisige Strecke durch Griechenland rumpelte, schnell vergessen. Nur in einigen Gebirgszügen, die sich mitunter ziemlich plötzlich aus der Ebene erheben, muss unser Zug wegen der noch windungsreichen Trassierung sein Tempo drosseln. Die Landschaft wechelt zwischen Sequenzen durch fruchtbare Ebenen und felsigen Gebirgen, dann fahren wir kilometerweit unmittelbar am Meer entlang und halten in Städten mit weißgetünchten Häusern. Irgendwo in den Bergen brennt der Wald. Pünktlich erreichen wir abends kurz vor halb zehn den peinlichen Athener Hauptbahnhof mit seinen drei Gleisen, der damit nicht größer ist als der Bahnhof von Buxtehude oder Radebeul Ost.

Ein IC-Triebwagen im Athener Larissa-Bahnhof, quasi dem Hauptbahnhof.

In Athen wimmelt es nur so von Hotels. Kleine und große, billige und teure... Wir beziehen im "Delfi" Quartier, weil es preiswert aussieht und direkt gegenüber des Bahnhofes liegt. Mit 50 DM sind wir gemeinsam dabei, und für den Preis übersieht man schon mal manch einen baulichen Mangel an den sanitären Anlagen oder besser: Die sanitären Anlagen sind ein einziger baulicher Mangel.

In "meinem" Souflakiladen von 1987, der inzwischen auch Heim-Lieferservice anbietet, gibt es ein schmackhaftes Abendessen, und nachdem wir uns nach einem abendlichen Stadtbummel zum Omoniaplatz in den verwinkelten Gassen der griechischen Hauptstadt beinahe verlaufen haben, fallen wir gegen Mitternacht ins Bett.

Freitag, 25. August 2000: Athen - Kalavrita - Platamonas

Im erfreulichen Kontrast zu den Waschräumen steht das Schlafzimmer, welches in Ordnung und zudem sehr geräumig ist. Von der Wärme einmal abgesehen stört Nichts unseren Schönheitsschlaf. Im Gegensatz zum "Slavyanska Besseda" in Sofija zeigt unser Zimmer auch in einen Hinterhof, in dem man vom Lärm der Straße wenig mitbekommt. Dass die Nacht trotzdem eine halbe Stunde kürzer ausfällt als eigentlich möglich, verdanken wir unserer eigenen Dummheit, da wir bei der Abfahrtzeit unseres Zuges auf den Peloponnes die Abfahrtszeit von Athen (6.31 Uhr) im Kursbuch mit der von Piräus (6.08 Uhr) verwechseln. So schlagen wir zwanzig frühmorgendliche Minuten im Athener Schmalspurbahnhof tot, der mit seinen gusseisernen Säulen, den verschnörkelten Giebeln und den hölzernen Fahrkartenschaltern den "eigentlichen" Hauptbahnhof schräg gegenüber, auf welchem wir gestern abend ankamen, architektonisch um Längen schlägt. Das große Gepäck haben wir in grenzenlosem Vertrauen beim Empfang im "Delfi" stehen lassen, so dass wir den Trip in den Süden ohne überflüssigen Ballast antreten.

In den Süden Griechenlands, auf die bzw. auf der Halbinsel Peloponnes, verkehrt eine mehrere hundert Kilometer lange Schmalspurbahn, welche die Halbinsel einmal vollständig umrundet und einige Abzweige ins Landesinnere besitzt. Die aus Deutschland (und Bulgarien) bekannte Definition einer "Schmalspurbahn" als "Kleinbahn", welche auf romantischer Strecke ohne Hast durchs Hinterland zuckelt, muss in Griechenland revidiert werden. Gut, etwas rustikaler als auf der normalspurigen Strecke geht´s hier schon zu, und es wird auch schon mal mit offenen Türen abgefahren. Aber statt einer Handvoll Züge besteht hier mitunter jede Stunde eine Fahrmöglichkeit, es gibt Nachtzüge und richtige Schmalspurintercitys, vollklimatisiert und mit Speiseabteil.

Die bei meinem letzten Besuch noch rege im Einsatz stehenden und mit einem Schwung Wagen aus dem VEB Waggonbau Ammendorf behängten Dieselloks aus amerikanischer Produktion, deren größter Feind langgezogene Steigungen waren, hat man offenbar auf´s Altenteil geschickt. Unser Zug, der die Halbinsel auf dem "Westring" umkreisen soll, ist daher ein dreiteiliger Dieseltriebzug ungarischer Herkunft, welche ich sonst nur vom "Ostring" kannte. Leider hat man bei ihm die 1. Klasse im Maschinenwagen untergebracht, dessen Aggregat nun lautstark hinter uns zu arbeiten beginnt und eine Verbalkommunikation ziemlich unmöglich macht.

Der Triebzug braust entgegen meiner Erinnerungen an vergangene Fahrten auf der Peloponnesbahn mit einem Affenzahn über die kurvige Strecke und verschafft sich in den Ortsdurchfahrten mit einen Typhon lautstark den nötigen Respekt, denn Schranken oder Absperrungen scheinen - soweit überhaupt vorhanden - in Griechenland bestenfalls empfehlenden Charakter zu besitzen. Obwohl er im Kursbuch als Schnellzug ausgewiesen ist, hält er an fast jeder Station. Wir fahren zunächst an der industriell geprägten und von hunderten von Ölsilos dominierten Athener Bucht entlang, überqueren den tief eingeschnittenen Kanal von Korinth und rollen dann unmittelbar oberhalb des kristallklaren Golfes von Korinth, einer Seitenbucht des Mittelmeers entlang. Die Kommunikation mit dem Schaffner klappt, so dass unser Zug nach meinem Foto in einem Unterwegsbahnhof beim Kreuzen mit dem Gegenzug nicht ohne mich weiterfährt. Diesmal ist es Tilo, bei dem es im Bauch rumort, allerdings ohne weitere Konsequenzen.

Diakopton ist eines kleines Städtchen unmittelbar am Meer mit vielen kleinen weißen Pensionen und geduckt unter Palmen stehenden Hotels, wo wir gerne eine Nacht hätten absteigen können. Tavernen und Konditoreien laden zu kulinarischen Ausflügen in die griechische Küche ein, und wer lieber selber kochen möchte, kann sich seinen Fisch direkt aus den mit Eiswürfeln gekühlten offenen Auslagen des örtlichen Fischgeschäftes aussuchen. Beim Obsthändler gibt es für wenig Geld köstliche Pfirsiche. Der ganze Ort hat seinen Charakter als Fischerdorf bewahrt, Bettenburgen und Clubanlagen sucht man hier vergebens.

Ich will DM in Drachmen tauschen. Es gibt im Ort genau eine Wechelstube, immerhin die Staatsbank, mit genau einem Schalterfritzen und genau einer, dafür aber entsprechend langen Schlange vor seinem Tresen. Die Arbeit ist in diesem Raum offenbar auch nicht erfunden worden, und als ich nach geschlagenen 20 Minuten die Staatsbank verlasse, reicht die Zeit bis zur Abfahrt der Bergbahn nur noch für einen Kuchen auf die Hand.

Im Palmen-umsäumten Bahnhof von Diakopto beginnt die 750mm-Bergbahn durch die Vourakiosschlucht.

Die Bergbahn ist noch schmalspuriger als die Peloponnesbahn und bedient sich stellenweise einer Zahnstange, wenn´s sonst zu steil würde. Sie führt von Diakopton am Meer über mehr als 20 Kilometer fast stetig bergauf ins bergige Landesinnere ins Dörfchen Kalavrita. Der Zug besteht aus zwei einzelnen, kurzen Wagen, zwischen denen ein halbhoher, zweiachsiger Motorwagen gekuppelt ist. Eine eigentümliche und ziemlich betagte Konstruktion aus Französien. Wie es sich für einen Zug der Griechischen Staatsbahn gehört, besitzt er sogar zwei winzige 1.-Klasse-Bereiche.

Das bis auf den letzten Platz vollbesetzte Gefährt nimmt um 10.30 Uhr das Gebirge in Angriff. Die Trassenführung ist atemberaubend: Unter gewaltigen Felsüberhängen, in senkrechten Felswänden, hunderte Meter über dem tief unter uns brausenden Bergfluss, trotzten die Erbauer den Steinen die Trasse ab, auf der sich der zwischen den beiden Personenwagen dahinschaukelnde Motor röhrend Stück für Stück in die Höhe arbeitet. Kurzen Tunnels folgen schwindelerregend hohe Brücken, und damit die aufwändige Trasse nicht nur von den paar Zügen am Tag genutzt wird, verläuft mitten auf der Bahntrasse ein offizieller Wanderweg! Als Wanderer möchte ich an manch einer engen Stelle allerdings nicht unbedingt dem Zug entgegen kommen...

Die Reise durch die Vourakiosschlucht dürfte zu den imposantesten Bahnfahrten Europas gehören.

Der Schaffner tritt auf den Plan und faselt irgend etwas von Reservierung. Wir nehmen Dummpulver, der Schaffner zittert wieder ab. Für die Rückfahrt wollen wir in Kalavrita, nicht viel mehr als ein Gasthof mit einer Handvoll Häuser an den Berghängen drumherum, als Zeichen unseres guten Willens Plätze reservieren. Das geht aber aus irgendwelchen Gründen nicht; na, wer nicht will, der hat schon, dann halt nicht. Leider macht sich nun das 5-Uhr-Aufstehen bemerkbar, denn ich verschlafe den schönsten Teil der Rückfahrt.

Der Schmalspurintercity zurück nach Athen ist ausreserviert. Wir steigen aber trotzdem ein und verschwinden schnurstracks in dem kleinen Speiseabteil. Da wir, wenngleich auch seeehr langsam, mehrere Getränke und einen Schießburger verkonsumieren, können wir auch bis zur verspäteten Ankunft in Athen dort sitzenbleiben und werden nicht einmal kontrolliert. Einige Eingeborene, die im vollen Zug das Speiseabteil nur zum Sitzen missbrauchen, werden von der resoluten, aber freundlichen Bedienung alsbald des Feldes verwiesen. Unterwegs verabschiedet sich dann die Klimaanlage. Nun wissen wir auch, warum sich trotz Vollklimatisierung jedes dritte Fenster öffnen lässt...

In Athen knipsen wir noch ein wenig Züge, essen in der traditionellen Braterei das berühmte Souflaki und holen das große Gepäck in Vollständigkeit aus dem Hotel. Dann geht´s rüber zum Bahnhof, diesmal aber wieder zum "Hauptbahnhof", wo die Züge nach Norden und Europa abfahren. Der Zug nach Thessaloniki ist ein D-Zug mit fünf Wagen oder sechs. Aus unseren 1.-Klasse-Plätzen amüsieren wir uns milde lächelnd über die Sitzplatzkämpfe in der 2. Klasse, denn auch dieser Zug ist zumindest in der 2. Klasse wieder recht gut besetzt. Ein Mädchen, welches sich in seiner Not auf einem 1.-Klasse-Platz niederlässt, wird vom Schaffner gnadenlos rausgeschmissen. Wäre ja noch schöner! So fahren wir um 18.40 Uhr in Athen ab und rollen gen Norden in die hereinbrechende Nacht.

Leider ist die 1. Klasse in einem Großraumwagen untergebracht, so dass man das Licht nicht löschen kann und wir mit zunehmender Dunkelheit irgendwann nur noch unsere Spiegelbilder im Fenster sehen. Trotzdem machen wir unterwegs noch eine völlig neue Erfahrung auf dieser Reise: Regen! Prompt setzt die Signaltechnik aus, und wir fahren 30 Minuten Verspätung ein.

Samstag, 26. August 2000: Platamonas - Nachtzug ab Thessaloniki

Statt um 0.08 Uhr kommen wir also erst um kurz nach halb eins in dem kleinen Städchen Platamos an, gut 100 Kilometer vor Thessaloniki. Es ist uns auf der Hinfahrt nach Athen aufgefallen, weil wir hier unmittelbar an einem ziemlich leeren Küstenstreifen entlang fuhren. Wir verlassen den Bahnhof, und nach ein paar Metern durch den Ort, in dem trotz der fortgeschrittenen Stunde noch der Touri tobt, und an ein paar Hunden vorbei, die wir aus ihrer Ruhe wecken, betreten wir alsbald den Strand. Wir laufen noch ein Stück auf dem schmalen Strand zwischen Wasser und Eisenbahnstrecke die Küste entlang, bis wir eine ruhige, nicht gar so steinige und nicht unangenehm riechende Stelle zum Schlafen finden. Ungestört verbringen wir in unseren Schlafsäcken die Nacht, etwa 5 Meter von der doch recht ansehnlichen Brandung entfernt.

Noch führt das Gleis in Platamonas direkt am Strand entlang. Doch die Tunnel der Neubaustrecke gehen der Vollendung entgegen.

Nach dem Ausschlafen beginnt der Tag für uns erst am frühen Vormittag. Große Veränderungen bedeuten die kommenden Stunden aber für uns nicht, denn größere Aktivitäten als Baden und Faul-in-der-Sonne-liegen vollbringen wir in den kommenden Stunden eher weniger. Durch eine stetige Brise vom Meer wird es auch nicht so unerträglich heiß. Eine griechische Familie, die in einiger Entfernung von uns auf ihren Handtüchern residiert, ist so nett und bewacht unsere Sachen, als wir uns doch einmal zum Stadtbummel nach Platamos und zum Fotografieren an der Bahn von unserem Platz entfernen.

Der Ort ist so, wie man sich ein vom Tourismus entdecktes Fischerdorf vorstellt: Bunt, quirlig, es gibt kleine Gaststätten und Pensionen, und beim Fischändler kann man auch Postkarten erwerben. Eigentlich hatten wir vor, hier noch einmal so richtig fein Essen zu gehen, so mit Meerblick und viel Fleisch oder Fisch und allem Pipapo. Da wir zu unserem Bedauern im Ort keinerlei Möglichkeiten zum Geld tauschen oder abheben finden - schließlich ist es Samstag Nachmittag - leisten wir uns von unseren vorletzten Drachmen nicht ganz so erlesen einen Souflaki von der Frittenschmiede, welcher aber ebenfalls auf äußerst schmackhafte Art und Weise den Hunger stillt. Nach dieser schweren Arbeit erholen wir uns für die nächsten Stunden auf unserem Strandplatz.

Um 19.30 Uhr fährt pünktlich der Bummelzug nach Thessaloniki ein. Wir nehmen in einem ehemaligen Bundesbahnschnellzugwagen Platz, und schon geht´s los. Das ist auch gut so, denn der Übergang auf den "Transbalkan" in Thessaloniki beträgt "nur" 30 Minuten.

Doch zu früh gefreut. Zunächst bekommen wir ohne ersichtlichen Grund das große Bummeln, dann bleiben wir im Bahnhof Plati ohne ersichtlichen Grund einfach stehen. Erst überholt uns ein offensichtlich verspäteter Intercity, aber wir fahren danach immer noch nicht weiter. Langsam werden wir unruhig... Nach einer weiteren Weile kommt von hinten noch ein D-Zug. Wir also ratzfatz raus aus unserem Bummelzug und rüber in den D-Zug. Der fährt dann auch tatsächlich bald weiter, und so kommen wir um 21.45 Uhr noch so rechtzeitig in Thessaloniki an, dass wir sogar noch Postkarten einwerfen können und unsere letzten Drachmen auf den Kopf hauen.

Während gegenüber der Bummelzug aus Platamos einrollt (hätte also doch noch gereicht, aber so sicher sollte man sich da ja nie sein), besteigen wir den berühmten Wagen 486 des "Transbalkan". Natürlich sind noch jede Menge Plätze frei, und auch bei der Schlafwagenbetreuerin, die sogar ein paar Brocken Deutsch versteht, kostet der Platz pro Person nur die 25 DM. So beziehen wir wieder unser rollendes Schlafzimmer und beobachten noch ein paar Minuten aus den Betten das Treiben auf dem Bahnsteig gegenüber, an dem gerade mit einem rappelvollen Nachtzug in die Türkei herumrangiert wird. Na, da haben wir es in unserem eigenen Abteil aber besser.

Pünktlich (!) um 22.05 Uhr fährt "Transbalkan" ab.

Sonntag, 27. August 2000: Nachtzug an Blagojevgrad - Rila-Kloster - Blagojevgrad

Bereits beim Grenzübertritt sammelt "Transbalkan" eineinhalb Stunden Verspätung ein. Es ist ein Phänomen! Insgesamt 2 ¾ Stunden sind laut Fahrplan für für die Kontrolle vorgesehen und sollten doch auch dem lahmarschigsten Zöllner genügen. Über vier Stunden sind´s dann tatsächlich geworden. Uns soll´s recht sein, denn so können wir länger schlafen.

Wozu die Schranken schließen - Baureihe 06 in Blagojewgrad.

Viertel vor sieben kommen wir in Blagojevgrad an. Als ich auf der Hinfahrt ein paar Minuten am offenen Fenster gestanden habe, habe ich hier in Bahnhofsnähe ein "Chotel"-Schild gesehen, so dass zumindest die grundsätzliche Frage nach der Übernachtung bereits im Vorfeld geklärt wäre. In der Umgebung wollen wir eine kleine Fotosafari zu den Ludmillen machen, die hier ihre Züge durch das wildromantische Tal des Struma-Flusses ziehen. Zunächst mache ich einen kleinen Erkundungsgang durch die Stadt, über der gerade die Sonne aufgeht, während Tilo mit den Rucksäcken im Bahnhof wartet. Im Gegensatz zur durchaus reizvollen Umgebung ist die Stadt am Sonntag morgen klinisch tot, aber hässlich hoch drei: fast nur Plattenbauten aus den 50-er und 60-er Jahren, dazu die üblichen abbröckelnden Bordsteinkanten und die allgegenwärtigen latenten Verfallserscheinungen.

Gegen acht Uhr beziehen wir das Chotel "Poli", welches sich als eine Privatpension entpuppt, die im unteren, fertig gestellten Teil einer Bauruine untergebracht ist. Die Bauruine ist bis zur zweiten Etage fertig, die dritte ist im Rohbau begriffen, und irgendwann kommt wohl auch noch ein richtiges Dach oben drauf. Wir zahlen pro Nase den inzwischen gewohnten EVP von 10 DM bzw. Lewa pro Nase und erhalten dafür ein geradezu luxuriöses, frisch renoviertes Appartement mit Balkon, Dusche/WC und Garderobe. Von wegen Bauruine! Sogar einen Farbfernseher mit Empfang vom Satelliten gibt´s, und für die Dusche stehen Badelatschen bereit. Das Preis-Leistungsverhältnis dieser Unterkunft ist mit Abstand das bisher beste auf dieser Reise.

T: Da fühlt man sich ja schon fast wieder heimisch: Baureihe 231 auf bulgarisch.

Leider kann Pavlina Atanasova, laut Visitenkarte "Präsident" der Pension, kein Geld tauschen, und so ziehen wir de facto "blank" los, um ein paar Fotos von den bulgarischen Varianten der aus Deutschland bekannten Schienenfahrzeuge, insbesondere den "Großrussen", zu schießen. Nach etwa 3 km finden wir eine halbwegs brauchbare Stelle und frönen unserem Laster.

In einiger Entfernung führt die Straße nach Sofija vorbei, an der ein Motel auf Kunden wartet. Nachdem wir einer Herde Ziegen begegnet sind, gehen wir hinüber. Das graue, verschachtelte Sichtbetonbauwerk verkörpert die sozialistische Synthese von Architektur und Luxus der 70-er Jahre, ist aber mit Ausnahme zweier nicht unbedingt überlasteter, aber sehr freundlicher Mitarbeiter offenbar völlig menschenleer. Nichtsdestotrotz können wir hier aber tatsächlich Geld tauschen! Anschließend nehmen wir vor Ort noch einen kleinen Imbiss ein, wobei mich Tilo überredet, einen Abstecher zum berühmten Rila-Kloster, dem Wahrzeichen Bulgariens, zu machen. Das liegt nicht weit von hier im gleichnamigen Gebirgszug und würde nach Sofija, Plovdiv und Veliko Tarnovo unseren Kulturtrip durch Bulgarien hervorragend abrunden. Außerdem kommt laut Kursbuch in den nächsten Stunden ohnehin kein Zug zum Knipsografieren.

Man ruft uns eine Taxe. Wir vereinbaren den Preis (15 DM), und los geht´s. In einem engen Flusstal windet sich die Straße immmer tiefer in das Gebirge. Unterwegs lassen wir anhalten und erwerben bei einem Straßenstand einen imkerfrischen Riesentopf Honig, in dem einige Bienenwaben schwimmen. Sieht sehr interessant aus und eignet sich hervorragend als Mitbringsel.

Abgeschieden in der Einsamkeit, aber dank der Touris nicht gerade vereinsamt: Das Rila-Kloster.

Nach 20 Mintuten Fahrt erreichen wir das Rila-Kloster. Es liegt inmitten der Bergwelt in einem tiefen Tal. Die touristische Eroberung der heiligen Stätte hat bereits begonnen, ohne dass diese jedoch überlaufen ist. Das Kloster selbst ist ein gepflegtes, an eine Festung erinnerndes Bauwerk. In der stadtmauerähnlich das Kloster umschließenden Anlage sind auf mehreren Etagen die spartanisch ausgestatteten Wohnkammern der Mönche untergebracht, welche durch hölzerne Balustradengänge an der Innenseite der Mauer erreichbar sind. In der Mitte der Anlage steht wie auf einem Dorfplatz eine reich verzierte Kirche. In einigen umliegenden Häusern werden Andenken verhökert. Auf der Terrasse eines Restaurants, welche sich auf Holzbohlen direkt über einem Gebirgsbach befindet, speisen wir zu Mittag. Obwohl die Sonne scheint, ist es beim Stillsitzen in dieser Höhe, immerhin 1.100 m ü. NN, empfindlich kühl. Das erste Mal in diesem Urlaub frieren wir.

Für die Rückfahrt fangen wir direkt vor der Klosteranlage ein Taxi ab. Da sich die Taxenpreise in Bulgarien nach der Größe des Autos richten, kommen wir in dem kleinen Suzuki für 15 DM nicht nur bis zum Motel zurück, sondern bis Blagojevgrad vor den Bahnhof. Bis etwa 16 Uhr machen wir in unserer Pension noch ein wenig Bubu, um dann ausgeschlafen unseren fotografischen Aktivitäten nachzugehen. Diese starten wir am Bahnhof, wo uns bereits die erste Ludmilla vor die Linse rollt. Nach Abarbeitung des dortigen Programms schnappen wir uns eine Taxe. Die springt aber nicht an, so dass der Wagen, ein Opel Kadett, von einigen Kollegen angeschoben werden muss, und dann geht´s los.

Die Taxe bringt uns ins urwüchsige Tal des Struma-Flusses, wo wir in freier Wildbahn Großrussen erlegen wollen. Als wir von der parallelen Straße aus eine nette Fotostelle erblicken, lassen wir die Taxe stoppen, zahlen 5 Lewa und verbringen den Spätnachmittag im südwestlichen Rilagebirge nahe der mazedonischen Grenze - gerade noch rechtzeitig, denn bis zum 31. August 2001 soll die Strecke nach Auskunft einer in Blagojevgrad aufgestellten Tafel elektrifiziert sein, und dann isses vorbei mit der Dieselherrlichkeit. Kurz bevor die Sonne hinter den Bergen versinkt, können wir noch ein paar Objekte unserer Begierde in der Bergwelt ablichten.

T: Dieselpower in Reinkultur: Zwei Ludmillen heulen mit ihrem Schnellzug durch das Struma-Tal.

Von einem nahegelegenen Haltepunkt fahren wir im letzten Licht des Tages in einem fürchterlich versifften Bummelzug zurück nach Blagojevgrad. Dessen Lokomotive rumänischer Herkunft klingt wie ein Krabbenkutter mit Husten, schafft es aber glücklicher Weise doch, uns heil ans Ziel zu bringen. Mit einem mehr oder weniger landestypischen Essen beim Chinamann endet der Tag. Ach, noch etwas: In Bulgarien ist der Reis beim Chinesen extra zu bestellen!

Montag, 28. August 2000: Blagojevgrad - Cerven Brjag

Selten habe ich so gut geschlafen wie in der Pension in Blagojevgrad. Daran kann auch der Spielfilm auf RTL nichts ändern, mit dem Tilo mich wachzuhalten versucht. Immerhin führe ich hier, in Blagojevgrad, meine erste Nassrasur durch. Man lernt nie aus! Unter der Dusche erhält auch mein grünes V-T-Shirt seine ursprüngliche Farbe zurück.

Der Schnellzug nach Sofija fährt überraschend pünktlich um 8.27 Uhr ab, und in einem ehemaligen Reichsbahnwagen rollen wir der Hauptstadt entgegen. Dass die Ankunft dort mit 15 Minuten Verspätung erfolgt hätten wir auch nicht anders erwartet.

Also stranden wir für knapp zwei Stunden wieder auf dem schmuddeligen Sofijoter Hauptbahnhof, diesmal aber um 12 Uhr mittags und nicht um 12 Uhr nachts. Und: Es gibt doch einen Briefkasten auf dem Bahnhof!

Gegen 13 Uhr verlassen wir in einem ziemlich keimigen 1.-Klasse-Wagen Sofija. Wir versuchen unser Glück noch einmal im Speisewagen und hoffen, dass es nicht wieder so eine Enttäuschung wird wie am ersten Tag. Die Hoffnung wird erfüllt, denn man schmiert uns für einen schlappen Lew ein frisches, üppig belegtes Käsebrot. Bei der Fahrt nach Cerven Brjag (das ist der Ort mit der Schmalspurbahn, zu dem wir bereits zu Beginn der Reise von Gorna Orjahovica aus hinfahren wollten), passieren wir den Iskar-Durchbruch, wo sich der Fluss in einer canyonartigen Schlucht tief durch das Balkangebirge gefressen hat. Etwa eine Stunde lang schlängeln wir uns durch die beeindruckende Felsenwelt, dann erreichen wir mit einer Viertelstunde Verspätung das nördlich des Gebirges gelegene Städtchen Cerven Brjag.

Gegenüber des Bahnhofes hat man als geschmackliche Entgleisung ein achtgeschossiges Plattenbauhotel mit dem einfallsreichen Namen "Cerven Brjag" hingeklotzt. Es kostet für Bulgaren 11 Lewa, für Ausländer 8 $, also etwa 16 DM. Das, was das Hotel mehr kostet als die Pension in Blagojevgrad, bietet es an Komfort weniger. Wir beziehen in der zweiten Etage ein vollständig in einem schmutzigen Hellblau gehaltenes Zimmer. Die Farbe ziert nicht nur die Wände, sondern auch die Nachtschränke, den Schreibtisch, Bilder- und Fensterrahmen, Türen und Bettkästen, Heizung und Rohre. Alles Schmutzighellblau. Bäh! Draußen ist es auch nicht neblig, vielmehr resultiert der verschleierte Blick auf die Straße aus den Fensterscheiben, die offenbar seit dem Untergang des Sozialismus nicht mehr geputzt worden sind. Als totalen Kontrapunkt in dieser Tristesse gibt´s peppige Bettwäsche mit Herzen und Schriftzügen "Love" drauf.

In Bulgarien noch ein alltäglicher Anblick: Ein Eselgespann in Cerven Briag.

Zunächst machen wir eine Fotoexkursion zur örtlichen Schmalspurbahn, dann fahren wir auf einer anderen Nebenstrecke, auf der nur zwei Mal am Tag ein Zug verkehrt, ins tiefste bulgarische Hinterland, wo ich beim Anblick des allgegenwärtigen Verfalls schon wieder einen Balkan-Koller bekomme. Ist denn den Leuten hier Alles so scheißegal, wie etwas aussieht? Es ist doch keine Frage des Geldes, mal den Vorgarten zu entrümpeln, Unkraut zu zupfen oder das undichte Ölfass wenigstens so hinzulegen, dass dessen Inhalt nicht die Straße hinunter läuft. Es muss ja nicht gleich so geleckt aussehen wie in der Schweiz, aber der Anblick dessen, was hier vor unserem Zugfenster vorüberzieht, verursacht bei schlechtem Wetter höchstens Depressionen.

In der kleinen Fußgängerzone von Cerven Brjag beruhige ich mich wieder, denn diese bietet einen netten Kontrapunkt zu den optischen Beleidigungen der vergangenen Stunden. Das auf der Fußgängerzoge vorüberflanierende Volk im Blickfeld, lassen wir den Tag bei einem Cocktail "Florida" und einer wohlschmeckenden Mischung aus Hot-Dog und Döner Kebab ausklingen.

Dienstag, 29. August 2000: Cerven Brjag - Varna

Das schmutzigblaue Zimmer ist laut, da aus einem Gartenlokal bis spät in die Nacht Musik zu uns schallt. Ein Lied scheint bei den Gästen besonders populär zusein, denn es wird immer wieder rauf- und runtergedudelt. Die Melodie geistert mir noch heute manchmal im Kopf herum. Naja, so schlecht klang sie auch nicht, leider war die Zeit für den Musikgenuss eher unpassend. Macht man das schmutzige Fenster zu, wird es im schmutzigblauen Zimmer stickig, aber nicht unbedingt leiser. Mit Prominentenraten langweilen wir uns in den Schlaf.

Der nächste Morgen sieht nicht nur des schmutzigen Fensters wegen trübe aus. Tatsächlich erblicken wir über dem Hotel "Cerven Brjag" einen wolkenverhangenen Himmel, aus dem es sogar ein wenig tröpfelt. Frühstück gibt´s im Hotel, in dem wir unser großes Gepäck den Tag über zurücklassen, nicht, und so ziehen wir knurrenden Magens dem nahegelegen Bahnhof mit seiner mannigfaltigen Budenstadt rundum entgegen. Dort entern wir eine Art Bistro in einem blechernen Pavillon, wo bereits die örtlichen Schluckspechte ihrem Tagwerk nachgehen. Wir verfrühstücken ein entsetzlich fettiges Käseomlett auf Brot, welches zwar stopft ohne Ende, dabei aber gar nicht so übel schmeckt.

Bei noch immer trüben Wetter besteigen wir den Vormittagszug der Schmalspurbahn in Richtung Donau. Der Zug, welcher der einzige ist, der die gesamte, über 100 km lange Strecke bis Orjahovo an der Donau befährt, ist zunächst gut besetzt. Im Gegensatz zu seinem schmalspurigen Gegenstück in den Rhodopen durchfährt er jedoch eine ziemlich eintönige, an die Magdeburger Börde erinnernde Landschaft und leert sich von Station zu Station.

Auf halber Strecke, nach 51 Kilometern, verlassen wir den Zug in the middle of nowhere, genauer gesagt: einem Städtchen namens Bjala Slatina. Der Zug wird bei der Ausfahrt noch einmal abgelichtet, wobei sich mir beim Anblick der inzwischen fast gänzlich leeren Wagen der sittliche Nährwert seines Verkehrens auf den restlichen 50 Streckenkilometern nicht so ganz eröffnet. Ich hätte die Strecke ab Bjala Slatina jedenfalls schon längst eingestellt, aber mich fragt ja keiner.

Da die nächste Rückfahrmöglichkeit mit dem Zug erst in fünf Stunden besteht, machen wir uns in unserer Not auf die Suche nach einer Bushaltestelle. Dabei kriege ich schon wieder einen Balkan-Koller, denn wir laufen entlang der wohl kaputtesten und versifftesten Straße der Stadt durch eine Art Gewerbegebiet, wobei wir bei einigen Anlagen nicht so recht wissen, ob darin noch Geld verdient wird oder man sie bereits abgewickelt hat. Zwar gibt es in dieser Straße zu meiner Überraschung sogar einen geraden Kantstein. Für den dazugehörigen Fußweg hat´s dann aber offenbar nicht mehr gereicht, so dass der frisch gesetzte Kantstein, der chinesischen Mauer gleich, einsam neben zwischen der schlaglochübersääten Straße und dem matschigen Gehweg aufragt.

Zufällig führt die grausige Straße aber genau zum Busbahnhof, einer asfaltierten Fläche von Bolzplatzgröße, an deren Rand sich einige Reisende um ein kleines Empfangsgebäude drängen. Neben einem Schwung Setra-Lizenzbauten steht dort ein Mercedes-Kleinbus nach Cerven Brjag, der in zehn Minuten abfahren soll. So ein Glück! Die zwei Beifahrerplätze neben dem Fahrer sind noch frei, und mit schlappen zwei Lewa sind wir in der ersten Reihe live dabei. Gemeinsam mit 15 anderen Fahrgästen nebst Fahrer setzt sich das leicht überfüllte Gefährt in Bewegung.

Wir fahren nun in einem bulgarischen Überlandbus! Unsere Reise geht voll durch´s Hinterland. Die Bulgaren fahren wie die Henker. Zum Glück ist wenig Autoverkehr, aber trotzdem hätte es fast einen Frontalzusammenstoß gegeben, als ein entgegenkommendes Auto auf der Landstraße einem Schlagloch ausweichen will und kurzerhand auf unsere Straßenseite wechselt. Der Löwenanteil der Verkehrsteilnehmer rekrutiert sich jedoch aus Pferde- und Eselsfuhrwerken. Einmal überholen wir sogar einen regelrechten Gespann-Convoy aus vier Fuhrwerken. Durch unscheinbare Dörfchen mit mehr oder weniger grauen Häusern in unterschiedlichen Erhaltungszuständen erreichen wir nach nur einer Stunde Cerven Brjag. Der Zug benötigte auf der Hinfahrt die doppelte Zeit und legte durch einen weiten Schlenker auch etwa die doppelte Strecke zurück.

In Cerven Brjag bringt uns der Busfahrer noch bis direkt vor den Bahnhof. In der Stadt findet gerade so etwas wie ein Markt statt, wo von A wie Autoschlauch bis Z wie Zahnpasta so ziemlich Alles feilgeboten wird, was man als guter Bulgare so zum Leben braucht, unter Anderem auch Zaumzeug und Geschirr für Pferd und Esel.

Die Bedienung im Café von gestern abend erkennt uns sogar wieder, als wir ein süßes und sicher unsäglich kalorienträchtiges Stück Kuchen verkonsumieren wollen. Dann gibt es, nachdem inzwischen auch wieder die Sonne scheint, noch ein Schmalspurfoto, wobei uns das Lokpersonal mit blinkenden Spitzenlichtern heftig grüßt - Eisenbahnfotografen scheinen auf dem Balkan eine ziemliche Rarität zu sein. Gegen 15 Uhr holen wir unser Großgepäck aus dem Hotel "Cerven Brjag".

Der Zug nach Varna ist der gleiche, mit dem wir 24 Stunden zuvor hier angekommen sind. Ja, 24 Stunden, denn selbstverständlich hat der Zug auch heute 15 Minuten Verspätung. So rollen wir rund fünf Stunden bis etwa 21 Uhr durch das wenig aufregende Nordbulgarien parallel zum Balkangebirge. Dabei kommen wir auch wieder durch Gorna Orjahovica, womit sich nun der Kreis unserer Reise quasi schließt.

Auf den letzten Kilometern komme ich mit einem Kölner ins Gespräch, der in Gorna Orjahovica Bekannte besucht hat. Er führt mich in die Geheimnisse der Bauruinen ein: Der Hausbau wird angefangen, dann ist unterwegs das Geld alle, nicht zuletzt, weil die Arbeiter erst so gegen 10 Uhr antreten und ab 14 Uhr schon wieder an den Feierabend denken. Im besten Falle wird, wie bei der Pension in Blagojevgrad, wenigstens ein Teil des Hauses bezugsfertig. Ansonsten kommen irgendwann die Zigeuner und bauen aus den halbfertigen Häusern alle noch brauchbaren Teile, vom Treppengeländer bis zum Ziegelstein, aus, um es dann auf der nächsten Baustelle feilzubieten. Manch ein Fensterrahmen dürfte demnach schon in diversen Möchtegern-Häusern eine vorübergehende Heimat gehabt haben. Übrig bleibt schließlich der gewohnte Anblick eines Betonkorsetts bzw. bei einem Ziegelbau nur noch das Fundament.

Der Lokführer vollbringt ein kleines Wunder: Wir kommen pünktlich in Varna an! Der erste Fernzug der BDZ, der in zwei Wochen Bulgarien ohne Verspätung sein Ziel erreicht!

Am Bahnhof in Varna fragt uns ein Eingeborener, ob wir eine Unterkunft suchen. Wir suchen, und für den inzwischen gewohnten Einheitspreis von 10 DM pro Nase kommen wir ins Geschäft. Aus den angekündigten 3 Lewa für die Taxe werden dann allerdings derer fünf. Wir beziehen eine Art Gästezimmer in der Privatwohnung von Zlatko Ivanov, auf der anderen Seite des Zentrums in einem Neubau. Am Ivanov´schen Familienleben nehmen wir allerdings nicht teil, denn wir ziehen abends noch einmal ins Zentrum Varnas. In mediterraner Atmosphäre tobt hier der Touri, und wir toben fleißig mit. Am letzen Tag lernen wir nach zwei Wochen Hinterland und Hauptstadt noch jene Seite Bulgariens kennen, die in Deutschland am ehesten mit dem Balkanstaat in Verbindung gebracht wird - die Badeorte an der Schwarzemeerküste. Die Stadt wirkt gepflegt und bunt, sogar die Busse kommen von Mercedes-Benz. Straßenlokale, Musik, Neonreklamen, Gerüche aus diversen Küchen ziehen durch die baumbestandenen Straßen, die Geschäfte haben geöffnet. Ein paar Stunden flanieren wir durch Varna, bevor wir gegen Mitternacht in die Wohnung Ivanov zurückkehren.

Mittwoch, 30. August 2000: Varna - Dresden

Erster Programmpunkt am letzten Tag soll gegen halb neun das Ablichten eines Großrussen am Bahnhof sein. Halb acht klingelt der Wecker und wird geflissentlich ignoriert, so dass es zum Schluss fast noch hektisch wird.

An der Straße stoppen wir per Handzeichen einen Sammelbus, der uns für je 0,80 Lewa zum Bahnhof fährt. Ungewohnt ist auch, dass hier beim Aussteigen bezahlt wird. Nach Abarbeitung der Pflicht begeben wir uns zur Kür. Da diese ohne Gepäck einfacher umzusetzen ist, geben wir die Rucksäcke am Bahnhof ab. Die Gepäcktante verlangt insgesamt 4 Lewa, weil nach ihrer leider maßgeblichen Meinung unsere auf den Rucksack aufgeschnallten Schlafsäcke Extra-Gepäckstücke seien, und damit basta! Beutelschneiderei, sogar in Sofija hat das Manöver zusammen nur 1,60 Lewa gekostet.

Der Strand von Varna: Der Kreis ist geschlossen, der Abschied steht bevor.

Mit kleinem Rucksack schlendern wir ins Zentrum hinauf und sehen Varna erstmals bei Tageslicht. Den bulgarischen Verfall muss man hier schon sehr genau suchen. Sogar eine schattige Fußgängerzone gibt es. Der Reichtum lockt allerdings auch unerwünschte Gäste an, und so werden wir mehrmals von Zigeunerkindern angebettelt. Dagegen wehrt man sich am Besten, indem man die Gören gar nicht ignoriert und so tut, als wären sie Luft. Mag zwar herzlos klingen, aber ich weiß nicht, ob es dann bei der Forderung nach einem Lew bleibt, wenn man den Kindern vielleicht einen gibt. Das sieht der Reiseführer übrigens ähnlich.

Zufällig landen wir am Strand. Das war zwar nicht geplant, hat sich aber so ergeben. Hmm, was nun? Lange überlegen wir nicht, und wenige Minuten später stürzen wir uns fast genau an jener Stelle, an der vor zwei Wochen mit dem nächtlichen Anbaden und anschließender Schlafsacknacht am Strand unser Urlaub seinen Anfang nahm, zum Abschluss der Reise noch einmal in das Schwarze Meer.

Wir holen Ruck-, Schlaf- und sonstige Säcke aus der freudenhauspreisigen Gepäckabgabe und fahren dann stilecht in einem alten Lada-Taxi für 10 Lewa zum Flughafen. Bekannte Gesicher vom Hinflug begrüßen uns, und in komprimierter Form berichten wir uns gegenseitig unsere Erlebnisse der vergangenen zwei Wochen. Dann geht´s durch die Passkontrolle. Während Tilo kommentarlos passieren darf, gibt es nebenan bei mir einige Aufregung, da wir ja innerhalb der zwei Wochen einmal nach Griechenland aus- und wieder eingereist sind. Mit Händen und Füßen versuche ich der verblüfften Zolltante unsere Reiseroute mit Ein- und Ausreisen anhand der Passstempel darzustellen. So etwas hat sie wohl noch nie erlebt, doch nachdem der Groschen bzw. der Lew bei ihr gefallen ist, nimmt sie es gelassen und hämmert mir lachend einen Stempel in den Pass.

Pünktlich startet unsere Tupolev um 14 Uhr in Varna. Über die Varnaer Bucht fliegen wir zunächst nach Burgas, wo wir eine Zwischenlandung einigen. Schön, wo ich doch so gerne starte! Das Essen an Bord ist wie die Stimmung gut, und über Rumänien, Ungarn und das Erzgebirge schweben wir gegen 16 Uhr bei bestem Wetter über die Dresdner Innenstadt ein.

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