Mit dem letzten Hab und Gut nach Westfalen

Aus dem Tagebuch 1943 von Bernward Lukner
Copyright by Dr. Bernward Lukner

Von der Rahlstedter Kaserne fuhr Papa mit dem Rad nochmal zurück, um irgendwo einen Betreuungsschein zu ergattern, damit niemand an unserer Obdachlosigkeit zweifelte. Plötzlich teilte man uns mit, daß bereits jetzt das Auto abginge. Obwohl diese Tatsache ja herrlich genug war, hatte ich doch Angst, dass Papa uns verfehlen könnte, während mir allerdings ein Feldwebel bestätigte, dies würde bestimmt nicht der Fall sein.

Zwei Autos fuhren in Richtung Ahrensburg, eins voller Menschen, eins voller Gepäck. Mit fabelhaftem Glück kamen wir vorwärts! Theoretisch müßten wir jetzt schlapp und verärgert irgendwo in Farmsen mit unserem ganzen Kram auf der Straße liegen!

Bahnhof Ahrensburg. Menschen über Menschen, Gepäck über Gepäck. Alle Stunde fuhr ein Zug in Richtung Lübeck. Wir setzten uns mit den Habseligkeiten an einen Baum und warteten auf Papa. Der kam wider Erwarten schnell, natürlich ohne Betreuungsschein, denn von den Betreuungsstellen war natürlich genau so wenig zu merken wie von der ganzen großartigen Luftschutzorganisation. Aber nun waren wir wenigstens wieder beisammen.

Das nächste Ziel war ein Zug mit genügend Platz für unser Gepäck. Auf den Bahnsteig gelangten wir verhältnismäßig schnell, aber die dämlichen Züge waren zu voll, obgleich die meisten hier eingesetzt wurden, und in den Personenwagen war für unsere Baggage doch kein Platz.

Endlich erwischten wir doch am Ende eines Zuges einen geräumigen Güterwagen. Ohne große Mühe hoben und schoben wir die Räder, die Schubkarre und uns selbst hinein. Als der Zug abfuhr, war er noch nichtmal ganz besetzt, bei uns fanden noch genügend Leute Platz.

In Bargteheide geringer Zuzug, in Kupfermühle endloses Halten, vor Oldesloe desgleichen. Um 3 Uhr trudelten wir glücklich dort ein. Die Möglichkeit, eine Nacht in Lübeck zu verbringen, wollten wir uns sparen, und so stiegen wir aus. Drei Stunden warteten wir in der brütenden Hitze (noch in Ahrensburg hatte die Sonne vor Qualm nicht scheinen können, hier schien sie desto mehr!), da lief ein Zug nach Hagenow ein. Wie freuten wir uns, als wir ihn kommen sahen, aber wie enttäuscht waren wir, als er nur aus Personenwagen bestand und auch schon brechend voll war. Wer weiß, wann der nächste kam! So was Dummes! Wie lange sollten wir hier noch in der Hitze warten?

Da wurden gottlob zwei Güterwagen vorgespannt - leere Güterwagen. Wir bekamen noch gerade Platz mit unseren vielen Sachen. Zwar mussten wir uns sehr quälen, das schwere Gepäck über Berge von Schotter hinweg in den Wagen zu schaffen (denn die Güterwagen standen nicht mehr am Bahnsteig), aber unter Anspannung aller Kräfte und dank der Hilfsbereitschaft unserer Mitreisenden lief alles gut ab, und wir konnten sehr zufrieden sein.

Über Ratzeburg fuhren wir nun in den dämmernden Abend hinein auf Hagenow zu. In liebevoller Weise verteilten die Einheimischen auf den Stationen Butterbrote und Fruchtsaft, einmal sogar beste Vollmilch!

Jetzt, wo es Abend wurde und der entsetzliche Tag, der 46. Geburtstag Mamas, zu Ende ging, und zwar gut zu Ende ging, war ich ganz zufrieden mit dem Ablauf der Ereignisse. Hatten wir auch "alles verloren", wie man bei einem solchen Geschick zu sagen pflegte, so hatten wir doch (dank der Schubkarre) noch sehr viel mitnehmen können. War anfangs unsere Absicht gewesen, Hamburg auf alle Fälle den Rücken zu kehren, so war es uns doch (dank der Hilfsbereitschaft der Soldaten) noch am gleichen Tag gelungen, das gefährdete Gebiet endgültig zu verlassen, während Zehntausende noch irgendwo im Walde oder sonstwo kampieren mussten. Beanspruchten wir mit unserem glücklich geretteten Hab und Gut auch sehr viel Platz, so war doch die Fahrt (dank der Hilfsbereitschaft unserer Reisegenossen) bisher stets glatt verlaufen. Hatten wir auch Brand und Zerstörung in ihrer grausamsten Wirklichkeit erlebt, so waren wir doch (dank Gottes Vorsehung) gesund entkommen, und das war ja bei weitem die Hauptsache. Daß ich freilig in eigener Dämlichkeit nur zwei Tagebücher und überhaupt keine meiner herrlichen Vergrößerungen, vor allem aber nicht mein liebes Mistalbum mitgenommen habe, kam mir damals noch nicht recht zum Bewußtsein.

Vor Hagenow-Land hielten wir, soweit ich mich erinnern kann, geschlagene vier Stunden, erst beim Ausfahrtsignal des Bahnhofs Hagenow-Stadt, dann beim Einfahrtsignal von Hagenow Land. Es war kotzlangweilig; zudem waren wir sehr müde.

Der Uhrzeiger stand schon über Mitternacht hinaus, als wir in den hell erleuchteten Bahnhof Hagenow-Land einfuhren. Niemand wußte, ob wir nun alle aussteigen sollten, oder ob der Zug (wie teilweise gemunkelt wurde) weiterfuhr. Der Zugführer antwortete auf meine Frage: "Ja, wie kann ich als Zugführer das wissen!"

Die meisten stiegen aus, die Leute unseres Wagens sogar alle. Dabei spielte sich folgender Zwischenfall ab: In unserem Wagen befand sich auch ein Oberarzt des Heeres, sehr eingebildet, unverbesserlicher Nazi - überhaupt der einzige Nazi, der mir seit dem 25. Juli begegnet ist. Dieser hochmütige Oberarzt schaute hochmütig auf einen Kinderwagen, der ihm beim Aussteigen ein wenig hinderlich war. Nun, dachte er, Befehl ist Befehl, und er befahl: "Nehmen Sie hier mal den Kinderwagen weg!" - "Wieso, steigen Sie doch rüber!" - Sowas war er als Offizier nicht gewohnt, er schraubte seine Stimme höher: "Nehmen Sie den Wagen weg!" - Nützte auch nichts. Ein Wort gab das andere; er schimpfte die Frauen histerisch; sie schimpften ihn einen "schönen Offizier", und schließlich sagte eine: "Sie sind ein richtiger Flegel!" Da war der Oberarzt außer sich vor Wut: "Das einem deutschen Offizier!!" rannte zu seinem Mantel und suchte - wahrscheinlich sein Koppel, damit er sich irgendwo beschweren könnte. Die Frauen aber dachten nicht anders, als daß er sie mit seinem Revolver bedrohen wollte, und schrien schrecklich um Hilfe. Es gab einen Mordslärm, aber natürlich geschah nichts weiter Aufregendes, als daß alle auseinandergingen bis außer uns niemand mehr im Wagen war. Obwohl nachher noch ein junges Ehepaar einstieg, daß von Bergedorf kam und ebenfalls eine Menge Gepäck mit sich führte, konnten wir uns doch einer behaglichen Leere erfreuen.

Ehe ich den Zug von Hagenow abfahren lasse, möchte ich noch erwähnen, daß wir auf der Fahrt von Oldesloe nach hier zum ersten Mal seit dem 27. Juli wieder eine Zeitung zu Gesicht bekamen, und das war auch bitter notwendig, denn in Hamburg hatten wir ja nicht im geringsten gewußt, was überhaupt in der Welt vor sich ging. Außer bereits genannten Gerüchten hatten am 28. und 29. Juli noch andere die Runde gemacht: Italien sollte angesichts der fortgesetzten Niederlagen auf Sizilien kapituliert haben, die Türkei sollte uns den Krieg erklärt haben, und als wirkliche, lautere Wahrheit erzählten uns politische Leiter, Soldaten und Polizisten mit größter Bestimmtheit, London sei zur Vergeltung für Hamburg 19 Stunden lang bombardiert worden. Das erwies sich jetzt als primitivster Volksbetrug. So weit waren wir also in Deutschland, daß man die Bürger bombardierter Städte mit Lügen plumpster Art beruhigen mußte.

Na, aber je länger wir auf die vielprophezeite "Vergeltung" warten mußten, desto mehr würde die Aussicht schwinden, daß jemals etwas daraus würde, und der ohnehin unvermeidliche Sieg der Engländer würde um so schneller erfolgen.

In der Zeitung stand also gar nix von alledem; nur alltägliches Zeug.

Etwa um 1 Uhr verließ der Zug nun doch den Bahnhof und fuhr auf der Berliner Strecke in die Nacht hinein. Wir waren so müde, daß wir auf dem Boden des Güterwagens einschliefen. Trotz Wolldecke und Kissen waren wir den Stößen des schlecht gefederten Wagens erbarmungslos ausgesetzt, aber - wir schliefen. Natürlich ließ es sich nicht vermeiden, daß man die ganze Zeit von Bomben und Alarmsirenen träumte. Besonders das Pfeifen von Lokomotiven hörte sich stets wie eine herabfallende Bombe an. Schon am Tage waren die Leute zusammengeschreckt, wenn eine Lokomotive pfeifend am Zug vorbeifuhr.

Im Halbschlaf hörte ich "Ludwigslust, nicht aussteigen!" doch als ich aufwachte, hielt der Zug bereits kurz vor Wittenberge, dicht am Bahnhof Dergenthin. Es war sehr kühl und auf den Feldern lag Morgennebel, aber es versprach ein heißer Tag zu werden.

Auch in Wittenberge wurde (Gelobt sei die Reichsbahn!) nichts von Aussteigen gesagt. Nach dem etwa dreistündigen Aufenthalt bei Dergenthin war es um so angenehmer, daß wir hier ziemlich rasch abfuhren; kaum daß wir ein wenig NSV-Kohlsuppe essen konnten.

Jetzt hatten wir allerdings wieder Zustrom an Bombengeschädigten bekommen. Unter ihnen befand sich, wie ich erstaunt feststellte, die berühmte, beleibte, bejahrte Zeitungsverkäuferin vom Dammtor, die wir als Tertianer gar nicht selten geärgert hatten, indem wir ihre Zeitungen fixiert hatten. Über dreißig Jahre hatte sie in ihrem Bau gesessen!

Bei der Fahrt über die große Brücke nahmen wir Abschied vom Elbestrom. Einer von uns meinte, an diesem Fluß hätte ja mal Hamburg gelegen...!

In rascher Fahrt durch das fruchtbare Land links der Elbe gelangte der Zug nach Magdeburg. Nur in Stendal hielt er. Hier sah ich zum ersten Mal auch wieder Kulturmenschen mit Sommeranzug und Blumen in der Hand. Ferner gab es hier von der NSV ganz einzigartigen, über alles erhabenen Zitronensaft. - Auf der ganzen Tour saß ich am Rande des Güterwagens und ließ die Beine an der Seite herunterbaumeln. Seltsam genug sah das für die Einheimischen aus, und ich war ja nicht der einzige; aber zum Ausruhen war dies Sitzen sehr nett.

In Magdeburg stiegen wir endlich aus, denn wir wollten noch den D-Zug nach Hagen schnappen, der irgendwann mittags fuhr. Der Flüchtlingszug dampfte weiter nach Leipzig, und wir ließen uns auf dem häßlichen Bahnhof rösten, nicht ohne der NSV-Verpflegungsstelle einen Besuch abgestattet zu haben. Die NSV, das muß man schon sagen, machte ihre Sache durchaus gut.

Insgesamt hatten wir anderthalb Stunden Aufenthalt. Wir bestellten eine Gepäckkarre, und der gute Mann gab seine feste Zusicherung, er wolle usw. Aber als es so weit war, kam er nicht. Wir mußten die vielen Sachen selbst hinüberschaffen auf den Bahnsteig, wo der D-Zug einlief. Das ging natürlich nicht so schnell. Wir bekamen fast alles an Ort und Stelle, aber auch eben nur fast alles. Der Zug fuhr ab - ohne uns. Das war ein verrückter Kram!

Hätten wir mit diesem famosen Zug fahren können, dann wären wir noch heute in Grüne [bei Letmathe] gewesen. Dann hätten wir uns noch heute in ein ordentliches Bett legen können! Dann hätten wir uns noch heute von Dreck und Ruß befreien können! Dann hätten wir nur noch einmal umzusteigen brauchen! Dann hätten wir einige schöne Gegenden kennengelernt (man denke: Goslar, Höxter, Altenbeken!) - andere Züge gab's da nicht! Dann hätten wir nicht so langweilig hier rumzustehen brauchen!

So aber kämen wir erst wer weiß wie spät in Grüne an, so müßten wir noch eine Nacht auf den Schienen zubringen, so würden wir am morgigen hochheiligen Sonntag dreckiger als der dreckigste Zigeuner umherlaufen, so würden wir noch wer weiß wie oft umsteigen und die Gepäckauf- und abladeprozedur auf uns nehmen müssen, so würden wir uns über die fruchtbare, aber eintönige Landschaft langweilen müssen - genau wie jetzt auf dem öden Bahnsteig.

Und wer weiß, wo der Alarm uns überraschen würde!! Vielleicht gar in Hannover!! Verdammt sei die Reichsbahn!

In Oldesloe sind wir über Schotterberge zu einem brechend vollen Wagen gekeucht - aber wir sind mitgekommen. - Hier in Magdeburg sind wir trotz Organisation, d.h. trotz Gepäckträger mit -karre, trotz Bahnsteig, trotz Platz im Zuge draußen stehen geblieben!

Erst um 6 Uhr ging ein Personenzug nach Hannover ab. Zum Glück war er schön leer und als Bombengeschädigte durften wir zweiter Klasse fahren, wenn auch nur bis Braunschweig, wo der Wagen abgehängt wurde, aber die Reise als solche war schauerlich.

In Hannover fuhr nach etwa zwei Stunden Aufenthalt doch noch ein Personenzug nach Bielefeld. Wir hatten Mühe, das Gepäck unterzubringen - sowohl Pack- wie auch Personenwagen waren sehr sehr voll, wahrscheinlich deswegen, weil Sonnabend war und weil sich auch viele Hannoveraner nach dem schweren Angriff vom 26. Juli lieber im Freien als in ihrer bombengefährdeten Wohnung aufhielten.

Von der Bahn aus war rein gar nichts an Bombenschaden zu sehen. Wie wir aber später erfuhren, hatte der Tommy hier doch sehr böse gehaust: 200 Tote, Leineschloß, Opernhaus, Marktkirche, Markthalle, das Wangenheimsche Palais u.a. Gebäude waren zerstört. Tante Marie hatte in ihrem Haus 15 Brandbomben gezählt, davon viele allein gelöscht und infolgedessen einen Großbrand verhütet; im Eßzimmer brannte die Couch an einer Ecke auf. 12 Flugzeuge waren zu dem Angriff nötig; gegen Hamburg also ein Kinderspiel.

Von Hannover bis Minden, von halb elf bis Mitternacht quetschten wir uns wie die Heringe, dann wurde es endlich leer. Kaum saß man, da schlief man. Mehrfach probierte ich es aus, wie ich die Augen nur mit Mühe offenhalten konnte, wie sie aber beim geringsten Nachlassen der Konzentration sofort zufielen.

In Löhne machten vorbeifahrende Lokomotiven einen Heidenlärm, so daß ich da etwas wacher wurde. Dwars vom Abteil stand ein Wasserhahn - ja, Durst hatte ich schon lange. Schnell eine Milchkanne voll geholt! Und hungrig war ich! Seit Magdeburg 3 Uhr - also seit einem halben Tag - hatte ich nix mehr gegessen, und in Magdeburg auch nur ein wenig Brot. Es war überhaupt verwunderlich, mit wie wenig Schlaf und Essen wir nun schon eine Woche lang hatten aushalten müssen.

Bielefeld. Zwei Stunden Aufenthalt, also Zeit zum Essen und Schlafen. Und komischerweise kein Alarm! Ein Glück! Kurz nach vier Uhr lief mit Verspätung der D-Zug nach Köln ein. Für das Gepäck war noch Platz - aber für uns selbst war in den Wagen keiner mehr. Wir sprangen in den Gepäckwagen. Zwar wurde der Zugführer sehr fuchtig, aber er konnte uns doch nicht zumuten, daß wir in Bielefeld stehen bleiben sollten!

Die Zeit bis Hamm schliefen wir, dann gelang es uns aber, im Zug selbst Platz zu finden, wenn wir auch dicht gequetscht stehen mußten. Es war überhaupt verwunderlich, daß so viele nach dem Westen fuhren, wo alles bombardiert war.

In Hagen verlief alles glatt. Wir konnten uns sogar ein wenig waschen - na, schließlich war ja heute Sonntag, der erste August. Den letzten Rest schafften wir natürlich auch. Endlich lag unsere Bagage auf dem Letmather Bahnsteig. Papa, Alfons, Hubert und ich fuhren auf den drei Rädern zum Pillingser Weg, während Mama in Letmathe auf das Fuhrwerk wartete, das Papa organisiert hatte. - 60 Stunden hinter uns.

Oma und Opa waren natürlich nicht wenig überrascht, zumal das in Magdeburg aufgegebene Telegramm noch nicht eingetroffen war (es lief erst am nächsten Tag ein, und zwar auf ganz erbärmliche Art und Weise gefälscht; statt "Wir sind abgebrannt und mit Gepäck unterwegs": "Wir sind abgefahren" usw. Armes Deutschland, armes Deutschland!). Aber natürlich waren auch sie zufrieden, dass wir alle gesund geblieben waren.

Hier hatten wir wenigstens ein Dach überm Kopf. Die alte Heimat war nach 16jährigem Aufenthalt in Schutt und Asche gesunken (am 30. Juli 1927, dem 30. Geburtstag, war Mama nach Hamburg gefahren; am 30. Juli 1943 mußten wir es verlassen!) und hier im Sauerlande suchten wir uns eine neue - hoffentlich eine schöne!

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