1990: Die deutsche Wiedervereinigung

Autor: Jan-Geert Lukner. Alle Rechte am Text und an den Bildern liegen beim Autor.

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Geschrieben: Ende 1999. Geringfügig überarbeitet und Bildstrecken mit großen Bildern eingefügt: Januar 2021.

Nun ist sie zehn Jahre her, die Wende. Vergessen sind weitestgehend die euphorischen Bilder und der Jubeltaumel. Erschreckend groß ist der Teil der Deutschen, der gar den Wiederaufbau der Mauer fordert. All zu groß sind -gerade im Osten- die Probleme geworden. Es gibt Wessis, die noch nie im Osten waren und im Osten laufen auch anno 1999 noch Menschen rum, an denen die Wende offenbar spurlos vorübergegangen ist.

Anlässlich des zehnten Jahrestages der Wende möchte ich an dieser Stelle berichten, wie ich die Wende erlebt -zum Teil aber auch verpennt- habe. Nie vergessen werde ich die überfüllten Sonderzüge, die von Mecklenburg nach Hamburg kamen, und meine ersten Schritte im Osten, nachdem jahrelang die Welt für mich 30 km östlich meines Wohnortes Hamburg-Bergedorf endete.

Kapitel 1: Wie die Dinge ihren Lauf nahmen

Donnerstag, 19. Oktober 1989: Der Schrankenposten Reecke

Es waren gerade Herbstferien und ich hatte mir eine Tourenkarte für Schleswig-Holstein gekauft. Daher war ich eigentlich an den vorhergehenden Tagen mehr damit beschäftigt, mich an irgendwelchen Fotomotiven im nördlichsten Bundesland einregnen zu lassen, als dass ich in den Medien verfolgt hätte, was auf den Straßen von Leipzig und anderen ostdeutschen Städten abging. Entsprechend überrascht war ich am Vortag, dem 18.10., gewesen, als Erich Honnecker, der greise Herrscher des Ostens, von Egon Krenz gestürzt worden war. Egon Krenz versprach nun ein Reisegesetz, das den "Brüdern und Schwestern" jenseits des Zaunes zwar etwas mehr Freiheit geben sollte, das die Geschehnisse, die da kommen sollten, jedoch noch nicht erahnen ließ. Entsprechend kümmerte ich mich weiter um meine Tourenkarte. Heute stand der Schrankenposten von Reecke zwischen Reinfeld und Lübeck-Niendorf auf dem Programm. Auf dem Hinweg bekam ich in Lübeck die Ankunft des Schnellzuges aus Güstrow mit. Die 132 konnte ich schön fotografieren. Habe ich es damals für möglich gehalten, dass nur wenige Jahre später diese Baureihe die meisten Züge auf der Vogelfluglinie bespannen würde? Dass diese Loks bis Hamburg kommen würden? Wohl kaum. Der Schrankenwärter in Reecke schilderte mir das "Problem", dass die aus Richtung Osten kommenden zwei Züge bei ihm im Kollegenkreis "Honni" hießen. Doch nun müssten sie sich einen neuen Namen suchen. Ob er es damals für möglich gehalten hat, dass einen Monat später die "Honni"-Züge morgens im Halbstundenabstand von Mecklenburg nach Lübeck gelangen würden? Wohl kaum.

An den folgenden Tagen spitzte sich weitestgehend unbemerkt von mir die Lage in der DDR immer weiter zu. Am 04.November hat die Zahl der Demo-Teilnehmer in Ost-Berlin die 1 Mio-Marke erreicht. Man ist mit dem neuen Reisegesetz nicht zufrieden. Schabowski gibt noch immer Statements in alter DDR-Manier ab: "Vorwärts im festen Bund mit unseren sowjetischen Freunden".

Am 05.November trafen die ersten Sonderzüge aus Prag in der Bundesrepublik ein. Die Bilder der langen Züge, aus denen die jubelnden Menschen in Trauben aus den Fenstern hingen, jagen mir auch heute noch Schauer den Rücken hinunter. Dennoch begann ich nicht zu realisieren, welches geschichtliche Ereignis uns bevorstand. Nur in üblichem Maße verfolgte ich die Berichterstattungen.

Wochenende 10.-12. November 1989: Trier

Am Abend des 09. Novembers hatte ich damit zu tun, meine Klamotten für die bevorstehende Wochenendfahrt unserer Schul-Tutandengruppe nach Trier zu packen. Ausgerechnet nach Trier! Möglichst weit weg von der Grenze, an der am Vorabend Geschichte geschrieben wurde... Erst viel später habe ich im Fernsehen Berichte gesehen, wie das Schicksal am 09. November seinen Lauf genommen hatte: Eine verunsicherte SED-Führung, ein stotternder Günter Schabowski, der auf der abendlichen Pressekonferenz die falsche Antwort an der richtigen Stelle gegeben hatte, die daraufhin zur Grenze strömenden Bürger und die Grenzposten, die friedlich blieben und die Menschen ohne Anordnung passieren ließen. Wir jedoch genossen in Trier den guten Wein, kämpften mit den Folgen am nächsten Tag (gut, ich hab' zwischendurch noch die eine oder andere 184 "erlegt") und bemerkten eigentlich erst auf der Rückfahrt an den vielen Trabbis auf der Autobahn, dass da etwas besonderes passiert war.

Die DDR-Führung zerbrach bald darauf und am 13.11. wurde Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählt. In diesen Tagen drückte ich wieder fleißig die Schulbank. Erst am darauffolgenden Wochenende hatte auch ich gerafft, dass man an diesem geschichtlichen Ereignis mal teilhaben sollte. Also: Auf in Richtung Grenze! Hinüber durften wir Wessis ja noch immer nicht.

Samstag, 18. November 1989: Lauenburg

Lauenburg war der einzige für mich mit der HVV-Schülerkarte kostenlos erreichbare Punkt an der Grenze. Somit stand das heutige Ziel fest. Interessant wurde es allerdings schon auf der Hinfahrt. In Nettelnburg stieg ich in die S-Bahn, die in Bergedorf nach Gleis 2 einfuhr, wo sonst nur im Berufsverkehr gehalten wurde. Im eigentlichen "Plangleis" 3 stand eine S-Bahn, ein Vollzug der Baureihe 472. Was machte die da? Zug kaputt? Und dann gingen mir die Augen über. Nach Gleis 4 fuhr ein von einer roten 218 gezogener Zug mit mir bis dahin unbekannten Wagen ein. Es handelte sich um 13 dreizehn (!) Bghw-Wagen! Die Türen gingen auf und plötzlich wimmelte der Bahnsteig von ungewöhnlich gekleideten Menschen mit Plastebeuteln in den Händen. Aus dem Lautsprecher tönte die Stimme des Bahnhofsleiters (mein späterer Chef...), der die Reisenden herzlich in Bergedorf Willkommen hieß und als Anschluß nach Hamburg auf die gegenüber in Gleis 3 stehende S-Bahn hinwies. Die vielen Menschen schauten sich irritiert oder einfach nur neugierig um. Einige stellten fest, dass es rund um den Bergedorfer Bahnhof auch schon einiges zu entdecken gab. Ich wurde gefragt, wann denn die nächsten Fahrgelegenheiten weiter nach Hamburg bestehen würden und ob es denn in Bergedorf gute Einkaufsmöglichkeiten gäbe. Mein erster Kontakt mit Ossis ;-) Später erfuhr ich, dass der Zug aus Hagenow kam, und zwar ziemlich überraschend. Die Betriebsleitung in Hamburg hatte einen Anruf vom Fahrdienstleiter Büchen bekommen, dass die Reichsbahn einen Sonderzug nach Hamburg schicken würde, der bereits in Schwanheide stand. Natürlich hatte die Bundesbahn diesen Zug nicht weigern können, auch wenn er völlig improvisiert auf die Beine gestellt worden war. Mangels Platz im Hamburger Hbf wendete der Zug bereits in Bergedorf.

Ich quetschte mich in die völlig überfüllte S-Bahn in Gleis 3 und fuhr mit ihr zurück nach Nettelnburg, um den Sonderzug bei der Einfahrt in den dortigen Güterbahnhof zu fotografieren, wo die Lok dann umsetzte. Die Mecklenburger waren begeistert von den sich zischend öffnenden und schließenden Türen, die ausgiebig ausprobiert wurden, und von der schnellen Beschleunigung der S-Bahn. Das hörte ich als Hamburger natürlich gern. Schließlich ist man ja etwas stolz auf seine Umgebung...

Nachdem in Bergedorf so viel los war, interessierte mich natürlich, was in Hamburg so passierte. Daher fuhr ich mit der nächsten S-Bahn nach Hamburg weiter. Den Hauptbahnhof erreichte ich rechtzeitig, um die Ankunft eines Sonderzuges aus Rostock (über Lübeck) beobachten zu können. Auf dem Bahnsteig standen zig Leute mit Namensschildern in den Händen. Sie erwarteten offenbar Angehörige, die sie etwas länger nicht mehr gesehen hatten... Auch Fernsehteams waren vor Ort. Als der Zug hielt, wieder diese Menschen, die kleidungstechnisch etwas anders aussahen...

Der Zug war brechend voll gewesen. Er bestand aus Bmh-Wagen der DR und Bm-Wagen der DB. Anders als in Bergedorf, wo natürlich keine "Empfangskommitees" standen, lagen sich hier die ersten Menschen in den Armen. Bei den einen flossen Tränen, andere machten sich auf, das Begrüßungsgeld abzuholen und sich dem Konsumrausch hinzugeben.

Nun endlich ging es nach Lauenburg (wie auch immer; wahrscheinlich mit dem Schnellbus, ich habe über Fahrten innerhalb des HVV nie Tagebuch geführt). In Lauenburg schauten wir als erstes in Richtung Grenzübergang. Die ganze Stadt war voll von Trabbis, Ladas usw. Bei strahlend blauem Himmel machten wir (jetzt war auch mein Schulfreund Lorenz mit von der Partie; keine Ahnung, wo wir uns getroffen hatten) Aufnahmen an der B5 und am Elbe-Lübeck-Kanal. Die Leute in den Autos grüßten und hupten allen anderen am Straßenrand zu. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die Triebwagen auf der Strecke Lübeck - Lüneburg bestanden heute aus zwei Einheiten. Die sonst zweimal täglich bediente Buslinie 27 von Lauenburg nach Horst, die bisher für mich eher etwas gespenstisches hatte (sie führte immerhin hinter das Ende der erreichbaren Welt), war auf einen Stundentakt verdichtet worden. Auf dem Lauenburger ZOB warteten wahre Menschenmengen auf die Rückreise in das benachbarte Boizenburg.

Abends suchten wir dann nochmal den Hamburger Hauptbahnhof auf. Es standen Züge in Richtung Schwerin und Rostock auf dem Programm. Ich habe die Bahnsteige wohl noch nie so voll gesehen. Dicht gedrängt standen die Menschen zwischen den zwei Bahnsteigkanten des Mittelbahnsteigs. Nun waren sie schwer bepackt. Kinder probierten ihre neuen Walkmen aus, Erwachsene hatten sich mit größeren technischen Geräten oder Kleidung eingedeckt. Bei Bereitstellung der Züge chaotische Szenen. Einige Leute hoben sich gegenseitig durch die Fenster in die Züge. Ein langer Tag für die DDR-Bürger, aber auch für uns, ging zuende.

Wochenende 24.-26. November: Hamburg

Wir hatten gehofft, dass wir vielleicht auch schon vor Weihnachten in die DDR fahren dürften. Doch es hieß, dass daraus vor dem 1.1. nichts werden würde. So versuchten wir (meist war Lorenz mit von der Partie), in Hamburg weitere Eindrücke zu sammeln. Für die zusätzlichen Züge nahm die Bundesbahn Wagen in Betrieb, deren Abstellung eigentlich gerade vollendet sein sollte. Die Rede ist von Byl/AByl- und Byg/AByg/BDyg-Wagen.

Die meisten der neuen Züge gelangten über Lübeck nach Hamburg. Über Büchen wurden lediglich zwei Zugpaare neu eingerichtet: Ein Nachtzugpaar von/nach Dresden (welches in den Folgejahren mein "Stammzug" für Touren in Sachsen / Thüringen wurde) und ein Schnellzug, der nachmittags nach Berlin-Lichtenberg (über Potsdam) fuhr, dort kurz vor Mitternacht ankam und kurz nach Mitternacht die Rückreise antrat. Um 6.24 Uhr war der Zug dann wieder in Hamburg. Die Wagenreihung des "Lichtenberger"s, wie wir ihn nannten, variierte stark. Mal waren es nur DB-Abteilwagen, dann mal nur Silberlinge mit einem Bm in der Mitte. Gelegentlich bestand das 1.Klasse-Kontingent aus einem AByg... Auch der Sonderzug von Hagenow nach Hamburg-Bergedorf verkehrte am 25.11. erneut, war allerdings nicht mehr ganz so lang und bestand aus Bmh-Wagen. Es war ein Handzettel mit den zusätzlichen Zugverbindungen herausgegeben worden. Ab wann er genau gültig war, kann ich leider nicht mehr nachvollziehen. Drauf stand nur: "Gültig bis 1.1.90". Hamburg hatte einiges für die DDR-Bürger auf die Beine gestellt. Das Hamburger Abendblatt verteilte kostenlose Sonderausgaben über alles Wissenswerte zu Hamburg und seiner Infrastruktur. Es wurden Festzelte aufgestellt; es wurde gefeiert.

Bildstrecke aus Kapitel 1


232 351 hatte am 19.10.1989 den noch relativ neuen zweiten Zug über den Grenzübergang Herrnburg / Lübeck, den D 1438 aus Güstrow, gebracht und rollt nun in die Abstellung.


Mit nur einer Stunde Abstand folgte der D 438 Rostock - Köln, den ich am Schrankenposten Reecke zwischen Lübeck-Niendorf und Reinfeld aufnehmen konnte.


Hamburg-Bergedorf war eigentlich immer nur S-Bahn Station. Am 18.11.1989 stand dort plötzlich ein Zug mit mir bis dahin unbekannten Wagen, ein kurzfristig eingelegter Sonderzug aus Hagenow. Die Bghw-Wagen sollte ich in den nächsten Jahren noch "lieben" lernen...


Neugierig schauen sich die eingetroffenen Reisenden um.


Gegenüber stand die S-Bahn zum Hamburger Hbf bereit, die selbstverständlich kostenlos genutzt werden durfte.


Der Sonderzug fuhr zur Wendung in den Bergedorfer Gbf. Leider habe ich ihn hier nur im Gegenlicht fotografiert. Nach Lokumlauf hätte er topp in der Sonne gestanden.


Aber am Hamburger Hbf gab es die Ankünfte weiterer Züge aus der DDR zu beobachten, z.B. D 1132 aus Rostock.


Die Eingetroffenen müssen sich sortieren, bzw...


...die ewig nicht gesehene Verwandschaft suchen.


Abends waren die Bahnsteige schwarz von Menschen zur Heimreise nach Mecklenburg.


Warten auf den nächsten Zug nach Rostock.


Auf dem damals provisorisch angelegten Nordsteg des Hbf (die Wandelhalle war gerade Großbaustelle) wird auf das Begrüßungsgeld hingewiesen.


Eine Woche später, am 25.11.1989 kam der Sonderzug aus Hagenow nochmal nach Hamburg-Bergedorf, war aber etwas kürzer.

Kapitel 2: Erste Schritte im Osten

Weihnachtsferien: Meppen

Traditionsgemäß verbrachte ich Weihnachten und den Jahreswechsel ebenfalls weit von der nun auch für mich offenen Grenze entfernt. Während in Berlin die wohl schönste Silvesterfeier des Jahrhunderts stattfand, gab es für mich Familie-satt im Emsland, und erst am 03.01. kehrte ich nach Hamburg zurück. Doch danach gab es kein Halten mehr. Die neue Freiheit musste ausgetestet werden:

Donnerstag, 04. Januar 1990: Wittenburg

Leider gab es per Bahn mittags (weiß nicht, warum wir nicht schon morgens gefahren sind...) keine brauchbaren Möglichkeiten, in die DDR einzureisen. Über Büchen war man immer darauf angewiesen, dass ein (Transit-) Schnellzug in Schwanheide Anschluss an den Personenzug nach Schwerin hatte. Der Mittags-Schnellzug nach Berlin verpasste den Mittags-Bummel nach Schwerin allerdings um wenige Minuten. Lorenz und ich reisten daher per Bus ein:

VHH Bus 31: Hamburg-Bergedorf 12.13 - Lauenburg ZOB 12.58

VEB-Kraftverkehr Bus: Lauenburg ZOB 13.00 - Boizenburg, Platz des Friedens 13.31-10

Der Ikarus- Schlenki war ganz gut besetzt, aber nicht überfüllt. Es war ein mulmiges Gefühl, auf die Grenze zuzufahren. Eine Grenzkontrolle gab es schließlich noch immer und man hatte ja von diesen Kontrollen einiges gehört. Andererseits war es ein tolles, befriedigendes Gefühl, endlich die Straße hinunterzufahren, entlang derer man schon so häufig geschaut hatte, um einen Blick von der Grenzstation zu erhaschen.

Eine Straße, die bisher in das Nichts geführt hatte und an der nun plötzlich in nicht allzu weiter Entfernung eine richtige Stadt lag. An der Grenze tauschten wir uns erstmal Geld um; dazu reichte der Grenzaufenthalt dicke. Die mit Spannung erwartete Grenzkontrolle verlief bald enttäuschend unkompliziert. Interessant fand ich die umgehängten Schreibpulte der Grenzer, auf denen unsere Pässe abgestempelt wurden. Vor Boizenburg passierten wir einen weiteren Kontrollpunkt, der allerdings schon unbesetzt war. Der erste Eindruck von der Stadt Boizenburg war eher ernüchternd. Das Hafengebiet war trist und die Wohnblöcke, die man etwas abseits der Straße sah, wirkten auch nicht gerade hübsch.

Das Stadtzentrum gefiel dann schon besser. Die Backsteinhäuser waren gut erhalten und das Rathaus war ein kleines Prachtstück. Leider parkten auf dem schönen Platz davor bereits jetzt zu viele Autos, als dass man vernünftig hätte fotografieren können. Wir wollten nun einen Blick von der Elbe erhaschen, waren dabei jedoch irgendwie auf dem falschen Weg gelandet und kamen durch Gassen, in denen die Häuser einen nicht mehr ganz so repräsentativen Eindruck machten. Besonders wohl fühlten wir uns in diesem Moment beide nicht. Die Menschen wirkten sehr fremd. Am stärksten beeinflusst wurde das Unwohlsein allerdings dadurch, dass das Wetter furchtbar trübe war. Es war saukalt und der für mich bestenfalls aus meiner Kindheit erinnerliche Geruch der Braunkohle hing schwer über der Stadt. Nun wurde es Zeit, mit dem Stadtbus weiter zum Bahnhof zu fahren. Irgendwie fanden wir zunächst die richtige Haltestelle nicht. Ein Bus fuhr uns dadurch vor der Nase weg. Wir hätten allerdings eh nicht mehr hineingepasst... Das nächste Problem war die Beschaffung der Fahrscheine. Eine alte Dame hatte uns angesprochen und erzählt, dass es beim Fahrer keine Fahrscheine gäbe. Und für den Vorverkauf war die Zeit nun zu knapp. Sie schenkte uns die benötigten Tickets ganz unbürokratisch. Wir passten sogar noch in den nächsten Bus hinein...

VEB-Kraftverkehr: Boizenburg, Platz des Friedens 14.05 - Bahnhof 14.09

Wieder ein oranger Ikarus-Gelenkbus. Und wieder proppevoll. Es herrschte gerade Schülerverkehr. Da war allerdings ein dicker Unterschied zum Westen: Die Schüler waren absolut ruhig und friedlich! Es kamen keine blöden Sprüche, niemand benahm sich daneben; im Gegenteil: Sie legten uns gegenüber ein sehr höfliches Auftreten an den Tag und wirkten einfach unverdorben. Vielleicht hätte man die Mauer bloß verlegen sollen: Von Berlin in deutsche Wohnzimmer vor alle Glotzen...

Am Bahnhof bekamen wir wunderschöne Pappfahrkarten nach Hagenow Land. Der Spaß kostete drei Ostmark. Und dann war es soweit: Meine erste Zugfahrt im Reichsbahnland stand nun kurz bevor. Die erste Zugfahrt, der unzählige folgen sollten. Die 110 mit ihren fünf Wagen kam herangebraust und mit einer ziemlichen Vollbremsung zum stehen.

P 7369: Boizenburg 14.23 - Hagenow Land 15.09

Die Wagen waren versifft und beim Einstieg kam einem eine betäubende Wolke des Desinfektionsmittels Wofasept entgegen, das in den nächsten Wochen noch regelrecht in unsere Kleidungsstücke eingehen sollte. Nachdem wir auf den schmierig aussehenden gelbbraunen Kunststoffbezügen Platz genommen hatten, zog die 110 den Zug langsam aus dem Bahnhof auf die eingleisige Strecke. Nur mühsam schien sie sich die Höchstgeschwindigkeit zu erkämpfen. Im Zug fiel uns positiv auf, dass es zwar in den Bghw-Wagen jeweils zwei Großraum-Abteile gab (das andere hatte dunkelgrüne Sitzbezüge), dass jedoch in beiden Abteilen das Rauchen verboten war. Der eine Vorraum verfügte über einen großzügigen Kinderwagenstellplatz. Wenn man sich jedoch Details der Wagen anschaute, überkam einem eine gewisse Ernüchterung. Mir fielen z.B. die Fensterdichtungen auf, deren Gummiwulst oft nicht präzise abgeschnitten war und somit einen Zipfel in das Abteil hinein bildeten. Die Farben des Wagens erinnerten mich an von Hand umlackierte Modellbahnwagen, bei denen selten die hundertprozentige Präzision einer maschinellen Fertigung erreicht werden kann. So hatten auch Dichtungsgummi und Fenster grüne Farbspritzer der Außenfarbe erhalten... Die Zugführerin dürfte gerade das achtzehnte Lebensjahr erreicht gehabt haben. Die Fahrkarte wurde resolut-wortlos gelocht. Sie wirkte irgendwie abgestumpft. Später haben wir das immer wieder beobachten können: Extrem junge Eisenbahner(innen), die ein gewisses Desinteresse an den Tag legten. Im Gegensatz dazu standen ihre älteren Kollegen, die meist durch eine ungeheure Resolutheit (insbesondere die Frauen) und mega-korrekte Dienstausübung auffielen. So übertrieben das manchmal auch wirkte, so beeindruckend war doch die fachliche Sicherheit, die diese Reichsbahner an den Tag legten; sei es im Bereich der Tarife oder in technischen Belangen.

Doch kehren wir in den P 7369 zurück. Über den Bahnhof Kuhlenfeld wunderten wir uns etwas. Er sah mit seinen hohen Lichtmasten aus wie ein Grenzbahnhof, doch die Grenze war hier doch schon wieder ein Stück weg. Wie wir später erfuhren, handelte es sich um den Grenzkontrollpunkt für Güterzüge. Hinter Kuhlenfeld führte die Strecke über weite LPG-Flächen. Auch diese wirkten wegen des trüben Wetters fürchtbar öde. Allerdings hatte ich mir die Flächen nach den bisher gehörten Erzählungen wesentlich größer vorgestellt. Auch an kleinen Unterwegsstationen gab es einen beträchtlichen Fahrgastwechsel. Ein Streckenläufer, der auf der anderen Seite des Ganges saß, erzählte uns etwas von seiner Tätigkeit. In Pritzier überholte uns der Transitzug D 333 nach Berlin. Dann Hagenow Land. Ich hatte das Gefühl, in die Kindheitszeit meines Vaters zurückversetzt worden zu sein. Was später eine beliebte Kulisse für meine Zugfotos abgeben sollte, wirkte an diesem dunklen, grauen Januartag nur erschlagend auf uns: Der holprige und mit Kopfsteinen gepflasterte Bahnhofsvorplatz, auf dem knatternd einige Trabbis bläulich weiße Abgaswölkchen ausstießen, der Kohlehaufen vor dem Postgebäude, die finsteren knorrigen Bäume an der Schranke und nicht zuletzt die alten Bahnanlagen mit den Formsignalen, dem Wasserturm und dem Bw mit der Aufschrift ”Berlin ruft die Jugend”. Im Postamt versuchten wir, Geld zu tauschen. Ging jedoch nicht. Die Postbeamtin zeigte uns gegenüber eine extrem distanzierte Resolutheit, die jedoch schnell wich, als sie merkte, dass Wessis nicht immer ”Besserwessis” sind. Zum Schluss war sie die Herzlichkeit in Person und telefonierte für uns in der Weltgeschichte herum, um eine Geldtausch-Möglichkeit zu finden. Wir hatten jetzt noch die Möglichkeit, mit dem ”Arbeiterzug” nach Wittenburg und zurück zu fahren. Die Zuggarnitur war die gleiche wie von Boizenburg.

P 9370: Hagenow Land 16.00 - Wittenburg 16.22

Den Rest der Strecke nach Zarrentin mussten wir uns für später aufheben.

P 9371: Wittenburg 16.32 - Strohkirchen 17.09

Im Zug saßen viele Arbeiter und Arbeiterinnen, die ihr Bier vor sich stehen hatten (wenigstens eine Gemeinsamkeit in Ost und West) und die uns ziemlich finster anschauten. Die Zeit reichte, um eine Station über Hagenow Land hinaus bis Strohkirchen zu fahren. Dabei handelte es sich um einen kleinen Haltepunkt mit Blockstelle (!). Mittlerweile war es dunkel geworden, so dass wir das Vorhandensein eines Fahrkartenschalters erst entdeckten, als wir das kleine Blockstellengebäude näher in Augenschein nahmen. Eine Fahrkarte nach Büchen konnten wir hier zwar nicht bekommen, wohl aber bis Schwanheide (für 4 M pro Person). Dann war auch bald der starke Scheinwerfer unseres Zuges in der Ferne zu sehen.

P 9374: Strohkirchen 17.26 - Hagenow Land 17.32

P 7374: Hagenow Land 17.48 - Schwanheide 18.35

Der P 7374 war sehr gut besetzt. In ihm ballte sich der Berufsverkehr ab Schwerin, die Rückkehr vieler Einkäufer und viele Wessis, für die dieser Zug (bis 5.1.90) die einzige Möglichkeit zur Rückreise nach Hamburg darstellte. Sie mussten alle mit uns zusammen die anderthalb Stunden Wartezeit in Schwanheide auf den Transitzug von Berlin in Kauf nehmen. Nun lernte ich endlich auch mal den Grenzbahnhof Schwanheide kennen, von dem ich bisher immer nur so viel gehört hatte. Der Personenzug durchfuhr zunächst den internationalen Bahnhofsteil mit dem alten Bahnhofsgebäude auf der einen und dem großen Plattenbau der Grenzbehörden auf der anderen Seite. Er kam erst ca 200 m weiter an einem einzelnen Seitenbahnsteig zum Stillstand. Von dort setzte sich ein langer Tross Menschen entlang der Straße und über die Schranke zum Grenzgebäude in Bewegung. Durch die vielen Scheinwerfer herrschte eine unwirkliche Stimmung. Die Paß- und Zollkontrolle verlief wieder völlig unspektakulär und bald fanden wir uns in einem riesigen im Charme der sechziger Jahre eingerichteten Wartesaal wieder, der sogar von der Mitropa durch einen besseren Kiosk bewirtschaftet wurde. Es gab ... na ja, ist ja eigentlich klar, oder? Natürlich Bockwurst mit Kartoffelsalat. Man konnte aber auch Bockwurst zum Kartoffelsalat bekommen. Die Stimmung im Saal war allerdings unbeschreiblich. Wildfremde Leute tauschten ihre Erlebnisberichte nach den ersten Schritten im Osten aus. Das anfängliche Murren über die lange Wartezeit wich einer gewissen Ausgelassenheit. Plötzlich ertönte aus einer der holzverkleideten Telefonzellen eine laute aufgeregte Stimme, die in den Hörer brüllte: ”Haaaalo! Ja, ich bin jetzt drüüüben! --- Wiiiie? --- Ja, in Schwaaaaanheiiiide!” Wie der ganze Wartesaal dem weiteren Gespräch entnehmen konnte, war der Typ nur mal kurz aus Hamburg über die Grenze gefahren und wollte mit dem nächsten Zug zurück. Auch eine Art, sich über die Grenzöffnung zu freuen...

Eine halbe Stunde vor Zugabfahrt öffnete der internationale Schalter im Plattenbau (zu den übrigen Zeiten bediente die Reichsbahnerin am Binnenschalter im alten Bahnhofsgebäude, wo es aber keine internationalen Fahrausweise gab). Am Schalter glaubten wir, uns zu verhören. Die Frau wollte doch glatt 10,20 DM pro Person für die sieben Kilometer bis Büchen sehen (wie wir später erfuhren, geht bei jeder internationalen Fahrkarte ein Festbetrag an die CIV. Dieser Festbetrag machte bei dieser kurzen Distanz den größten Anteil des Fahrpreises aus). Da wir arme Schüler waren, waren wir natürlich sehr über diesen Preis schockiert. Denn dieser Horrorpreis würde auch weitere DDR-Touren, die wir ja fest vorhatten, in Frage stellen. Die Fahrkartentante meinte daraufhin schnippisch, wir könnten bezahlen, wir könnten es aber auch bleiben lassen...

D 338: Schwanheide 20.02 - Büchen 20.09

N 5986: Büchen 20.47 - Aumühle 21.04

Weiter mit S-Bahn bis Nettelnburg. Auch wenn es sich nur um einen halben Tag gehandelt hatte, war er voll von interessanten Eindrücken. So grau, kalt und unsympatisch sich uns der Osten auch präsentiert hatte, so gespannt waren wir doch auf weitere Touren...

Bildstrecke aus Kapitel 2


Der Bahnhof liegt in Boizenburg ein Stück aus der Stadt raus, so dass wir uns VEB Kraftverkehr Hagenow anvertrauen mussten.


Mit diesem Zug beginnt die Geschichte meiner vielen Touren im Reichsbahnland: P 7369 kommt von Schwanheide und rollt am 04.01.1990 in den Bahnhof Boizenburg ein, der mit seiner einzelnen Bahnsteigkante für Reichsbahnverhältnisse ungewöhnlich "gerupft" wirkte.


Der Zug hat uns bis Hagenow Land gebracht. Im Dunst der Zugheizung nimmt der E-Karren am BDghw Stückgut in Empfang.


An der benachbarten Post wurden gerade Kohlen geschippt, während sich Stück weiter eine Schlange vor der Schranke gebildet hat.


Der neue D 1139 nach Berlin-Lichtenberg rollt in den Bahnhof Schwanheide ein. Vorn das alte EG, das dem Binnenverkehr diente, und hinterm Zug der Plattenbau der Grenzorgane, in dem es Bockwurst gab.

Kapitel 3: Expedition Brandenburger Tor

Samstag, 06. Januar 1990: Berlin

Unmittelbarer als in Boizenburg und Wittenburg musste das “Wende-Feeling” in Berlin aufkommen; dessen waren wir uns sicher. Also stand die “Hauptstadt der DDR” auf dem Programm. Problem war allerdings, dass man für die Transitzüge den Fahrpreis in DM entrichten musste. Das konnten wir uns als Schüler natürlich nicht leisten. Daher reisten wir etwas unkonventioneller an:

N 5931: Aumühle 07.39 - Büchen 07.58

In Aumühle gab’s am Automaten eine Fahrkarte bis Büchen (Gr). Im Schnellzug wollten wir dann bis Schwanheide nachlösen.

D 331: Büchen 08.43 - Schwanheide 08.50

Wären wir mit diesem Zug weitergefahren, hätten wir schon vor Mittag in Berlin sein können. Aber warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht... In Schwanheide für 5 M Pappfahrkarten nach Lulu erstanden und durch den Zoll zum Personenzug- Bahnsteig gewandert...

P 7367: Schwanheide 09.29 - Hagenow Land 10.11

P 9367: Hagenow Land 10.26 - Ludwigslust 10.50

In Ludwigslust etwas um den Block gegangen. Die Plattenbauten in Bahnhofsnähe gefielen uns allerdings weniger... Am Bahnhof standen viele Uniformierte rum, die uns argwöhnisch beäugten (das Gefühl hatten wir jedenfalls). Wir konnten die verschiedenen Uniformen noch nicht richtig einschätzen. Lediglich die Sowjetsoldaten erkannten wir ziemlich schnell als solche. Bald wussten wir dann aber auch, dass blau die Farbe der Trapo und grün die der Vopo war. Die Weiterfahrt sollte mit einem D-Zug stattfinden, der zwar nicht nach Berlin, aber wenigstens über Potsdam (weiter nach Dresden) fahren sollte. Die Fahrkarte kostete inklusive D-Zug-Zuschlag 16,60 M (also in DM 5,50).

D 935: Ludwigslust 11.33 - Potsdam Hbf 14.16

Der Potsdamer Hbf wurde später in Potsdam-Pirschheide umbenannt. Es handelt sich um einen Turmbahnhof, dessen oberer Teil mittlerweile im Fahrgastverkehr nicht mehr bedient wird. Unten gab es eine Ferkeltaxe und eine 118 (heute 228) zu fotografieren. Es war nasskalt und der Boden war sogar stellenweise weiß. Der Himmel zeigte sich wie schon in den letzten Tagen von seiner deprimierendsten Seite. Hatten wir erwartet, nun mit einer neuen S-Bahn direkt nach Berlin fahren zu können? Dazu waren wir "leider" drei (?) Jahre zu früh dran... Also erstmal mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren. Von dort ging es mit einem nicht schlecht besetzten Doppelstöcker der BVG in den Berliner Westen. Am Kontrollpunkt mussten alle den Bus verlassen, zu Fuß durch die Kontrolle laufen und auf der anderen Seite wieder einsteigen. Vor dem Bahnhof Wannsee wünschte der Busfahrer über Lautsprecher einen schönen Aufenthalt und gab den wohlgemeinten Ratschlag “... und jeben se nich zu viel Jeld aus!”. Wie wir so in Wannsee auf die S-Bahn warteten, bekamen wir zum ersten Male an diesem Tag die Sonne zu sehen. Sie ging gerade unter...

Mit der S3 fuhren wir in guter alter Holzklasse in die Innenstadt, wo wir uns zunächst am Zoo mit paar Lebensmitteln eindeckten. Dann ging es weiter zur Friedrichstraße. Erstmalig durfte ich hier nun auch mal hinter die große Trennwand schauen. Vorher mussten wir uns allerdings von Wahnsinns- Menschenmassen durch die Paßkontrolle schieben lassen. Natürlich wollten wir auch einen Stempel in den Reisepass bekommen. Mittlerweile hatten wir völlig die Orientierung verloren. Als ich später mal wieder an der Friedrichstraße war, konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, wo einst die ganzen Kontrollstellen untergebracht waren. Auf dem Weg zur Ost-S-Bahn wurden wir von zig Leuten angesprochen, ob wir nicht Geld wechseln wollten. Da wir die Verhältnisse noch nicht so kannten, lehnten wir dankend ab. Vielleicht hatten sich heimlich Stasi-Leute unter die Schwarzhändler gemischt, um paar böse Wessis verhaften zu können... Nun ging es mit der S-Bahn nach Lichtenberg weiter. Im Ostteil der Stadt gab es offenbar keine Holzklasse mehr. In Lichtenberg wollten wir schon mal die Fahrkarten für die Rückfahrt kaufen. Nach Büchen hätte es knapp 60 DM gekostet. Wir hatten jedoch eher an die Preisklasse der Hinfahrt gedacht. Daher beschlossen wir, uns auf dem Rückweg noch etwas Schwanheide anzuschauen und lösten ein Ticket dorthin. Das kostete dann nur 21,80 M.

Nun ging es aber endlich in Richtung Innenstadt. Mit der S-Bahn fuhren wir zunächst zum Hauptbahnhof. Die Halle schien ganz neu zu sein; vereinzelt hingen noch willenlose Kabelenden in der Luft. Wir beobachteten einige S-Bahn-Züge; in Sachen Fernverkehr lief allerdings weniger ab. Lediglich einige leere Transitzüge, die östlich Friedrichstraße als Leerzug verkehrten, passierten den Hauptbahnhof. Von außen war das Gebäude schön angestrahlt. Uns gefiel dieser neue, saubere Bahnhof mit seiner großzügigen Halle sehr gut. Nach der Besichtigung dieses Hauptbahnhofs, der eigentlich nie einer war, fuhren wir mit der S-Bahn zu einem zweiten Zwischenhalt am Alexanderplatz weiter. Auch hier packten wir unsere Stative aus, um den Fernsehturm zu fotografieren. Der war allerding dann doch etwas hoch... Ansonsten kam uns der Platz sehr fremdartig vor. Diese derartig große Fläche umgeben von den sozialistischen Einheitsbauten war etwas vollkommen Neues für mich.

Es war kalt und daher ging es bald mit der -zugegebenermaßen kaum wärmeren- S-Bahn weiter zur Friedrichstraße. Von dort ist es nicht weit zur Prachtstraße "Unter den Linden". Die Stadt war hier eigenartigerweise recht leer. Entlang von Friedrichstraße und Unter den Linden waren regelrecht die Bürgersteige hochgeklappt. Kaum eine Menschenseele war zu Fuß unterwegs. Lediglich auf den Straßen waren noch einige Autos unterwegs. Wir genossen es, den breiten Mittelstreifen zwischen den Alleebäumen (Linden?) fast für uns zu haben. Weit in der Ferne konnte man schon das prächtig beleuchtete Brandenburger Tor ausmachen. Die Häuser auf linker und rechter Straßenseite fielen kaum auf. Das lag einerseits natürlich an den Bäumen entlang des Mittelstreifens, andererseits aber auch an der Finsterkeit der Fassaden. Es gab keine beleuchteten Schaufenster, kaum Leuchtwerbungen. Nur grauer Putz. Aber den sah man in der Dunkelheit natürlich nicht. So schritten wir dann unter den Linden langsam auf das Brandenburger Tor zu. Je näher wir dem Tor kamen, desto öfter hielten wir an, um die Stative zwecks Foto aufzustellen. Vor dem Tor noch eine Querstraße, dann standen wir fast davor. Hier gab es damals noch keinerlei Autoverkehr. So kam es, dass wir diese feierliche Stille spürten. Hier, mitten in der größten deutschen Stadt, herrschte Stille! Auch die hier nun wieder reichlich entlang flanierenden Menschen genossen diese abendliche Ruhe und sprachen bestenfalls in andächtigem Flüsterton miteinander. Doch dann war ein zunächst unbestimmbares Geräusch zu hören. Ein merkwürdiges Klopfen und Hämmern, das immer lauter wurde, je mehr man sich dem Tor näherte. Die Mauerspechte! Es wurde an diesem Abend um 21 Uhr am Brandenburger Tor nicht gesprochen, sondern emsig gehämmert.

Dann war es soweit. Ein unbeschreibliches Gefühl, das Tor zu durchschreiten, dass am Wochenende zuvor eine der wohl schönsten Silvesterfeiern des Jahrhunderts erlebt hatte. Nachdem wir den Zollcontainer passiert hatten (wir mussten den Grenzer fast überreden, uns einen Stempel in den Reisepass zu geben), sahen wir dann die Spechte. Auch sie sprachen nicht. Sie arbeiteten konzentriert an ihren Löchern, auf dass ihnen auch kein Stein davonhüpfte. Ein derartig rege-stilles Treiben habe ich sonst noch nie erlebt. Müssen so viele Menschen an einem Ort nicht viel mehr Lärm machen? Leider hatten wir kein geeignetes Werkzeug zum Steineklopfen dabei, doch ein Ami schenkte uns paar kleine Stücke. Für eine DM erwarb ich dann bei einem Händler ein besprühtes Mauerstück hinzu. Nur schwer konnten wir uns von dem Schauspiel losreißen. Diese feierliche Stille wird am Brandenburger Tor nie wieder zu erleben sein. Heute führt entlang des Mauerstreifens eine breite Straße. Vor dem Tor befindet sich jetzt eine große Kreuzung mit Ampel. Durch das Tor strömt jetzt der Autoverkehr. Was für eine städteplanerische Geschmacklosigkeit! Nachdem wir auch den Reichstag inspiziert hatten, trieb uns die Kälte in den Bus Richtung Kudamm. Dort liefen wir noch etwas auf und ab, bevor wir in einer Gaststädte den Tag ausklingen ließen.

Vom Bahnhof Zoo ging es um 22.54 Uhr mit der West-S-Bahn zur Friedrichstraße und mit der Ost-S-Bahn weiter nach Lichtenberg, wo unser Zug auch bald von Hamburg her eintraf. Er bestand aus einer 132 und zwölf Silberlingen. In einem Wagen ließ sich wenigstens das Licht abstellen. So trug es sich zu, dass sich in diesem Wagen auch die Handvoll Fahrgäste versammelte. Wir konnten uns auf zwei Sitzgruppen verteilen und hatten nicht zuletzt wegen unserer großen Müdigkeit eine angenehme Fahrt. Natürlich verspürten wir in Schwanheide keine Lust, das warme Abteil zugunsten einer morgendlichen Dorfbesichtigung zu verlassen. Aber es gab ja die Möglichkeit des Nachlösens...

D 1138: Berlin-Lichtenberg 00.24 - Hamburg Hbf 06.24

Da unser Dunkel-Wagen besser besetzt war, ließ uns der Zoll weitestgehend in Ruhe. In den anderen Wagen konnten wir ausgiebige Filz-Aktionen beobachten. Platz war reichlich vorhanden. In Büchen gab es keinen Anschluss nach Aumühle; so mussten wir uns die teure Strecke bis Hamburg leisten...

Kapitel 4: Die ersten längeren Touren

Sa, 13.01.; Sa, 20.01.; So, 28.01.; Sa, 03.02: Mecklenburg, Sachsen-Anhalt

Die zwei geschilderten Touren waren nur der Anfang gewesen. In der nun folgenden Zeit, die für uns eigentlich intensivste Abitur-Vorbereitung nötig gemacht hätte, war ich mit Freunden oder auch mal allein jedes Wochenende "drüben". Noch viele Male mussten wir im Wartesaal von Schwanheide die abendlichen anderthalb Stunden totschlagen. Wir nutzten die Zeit zum Lernen oder für Vorbereitungen auf Einstellungstests. Die nächsten Touren führten mich zum "Karower Knoten", zu "Molli", in die Altmark (Diesdorf...), nach Klütz und Rehna. Auch auf diesen Touren gab es unzählige neue Eindrücke für mich. Für mich als Nebenbahn-Liebhaber stellte die Fahrt mit der Ferkeltaxe von Salzwedel nach Diesdorf einen absoluten Höhepunkt dar. Hier konnte man noch richtige Kleinbahn-Romantik erleben. In Rehna wollte mir erstmalig ein Eisenbahner das Fotografieren auf dem Bahnsteig verbieten. Glücklicherweise war kurz vorher durch die Eisenbahnzeitschriften die offizielle Aufhebung des Fotoverbotes bekanntgegeben worden. Die unzureichenden Zugverbindungen über die Grenze machten es nicht gerade einfach, vernünftige Touren auf die Beine zu stellen. Gerade über Büchen hatte man keine große Zugauswahl. Für die Verbindungen über diese Strecke hatte ich mir einen handschriftlichen Fahrplanbehelf aufgestellt.

Für die Touren in die Altmark (!) erwies es sich als günstig, um 06.12 Uhr Hamburg mit dem Eilzug über Lübeck (!) nach Rostock zu verlassen, der in Bad Kleinen Anschluss an einen Schnellzug in Richtung Stendal hatte. Der Eilzug hatte auf der eingleisigen Strecke Lübeck - Bad Kleinen in fast jedem Bahnhof Kreuzung mit einem Gegenzug (in Herrnburg sogar mit zweien). Und all diese Züge waren samstags brechend voll...

Donnerstag, 08.02. - Samstag, 10.02.: Dresden

Dies war nun die erste Tour nach Sachsen und das erste von vielen Malen, die ich den Dresdner Nachtzug genutzt habe. Mit von der Partie war Matthias, der sich zwar nicht für Eisenbahnen interessiert, der jedoch neugierig auf den Osten war. Dummerweise hatte ich am vorangegangenen Wochenende nur für mich eine Fahrkarte für den östlichen Streckenteil ab Schwanheide (Gr) besorgt. So begannen die Probleme bereits bei der Fahrkartenkontrolle im Nachtzug. Der Schaffner (einer von der alten Sorte) wollte von Matthias Westgeld haben. Und mit meiner in Schwanheide ausgestellten Karte von Schwanheide-Grenze rannte er wütend zum Schalter, weil er meinte, dass es hätte Büchen (Gr) heißen müssen. Wir sahen uns schon den Zug in Schwanheide verlassen, um nach einer Nacht im Warteraum mit dem Gegenzug zurückzufahren. Meine Karte erkannte der Schaffner dann aber doch an und mit Matthias einigte er sich darauf, dass er bis Ludwigslust 24 DM und ab dort 39 M zahlen sollte. Ein weiteres Problem war, dass wir nicht genügend Umtauschbescheinigungen für die Summe an Ostgeld dabei hatten, die wir mit uns führten. Nur mit Umtauschbescheinigung der "Staatsbank der DDR" war es erlaubt, DDR-Geld einzuführen. Dort war der Kurs 1 DM = 3 M. Wenn man an westdeutschen Wechselstuben tauschte, bekam man anfangs noch einen Kurs von 1 DM = 20 M. Die Ostmark stieg aber rapide im Kurs, so dass der Kurs im Westen bald auf den Umtauschkurs der DDR-Staatsbank zulief. Jedenfalls durfte ich dem Zoll erstmalig den Inhalt meiner Taschen "vorführen". Glücklicherweise musste Matthias nicht auch noch seine Taschen vorführen... Nach diesem Stress verlief die Fahrt im eigenen Abteil angenehm. Von Dresden ging es erstmal mit der S-Bahn durchs Elbtal nach Schöna und zurück, bevor wir die Stadt in Augenschein nahmen. Die Stadt selbst gefiel mir überhaupt nicht. Für den sozialistischen Stil der Prager Straße hatte ich damals noch nichts übrig. Und die historischen Bauten glichen Trümmerhaufen bzw. machten einen furchtbar heruntergekommenen Eindruck. In einem SB-Restaurant, einer dieser Massenabfütterungshallen, aßen wir zu Mittag, wobei die Kartoffeln sich in einem furchtbaren Zustand befanden.

Nach einer Dampfzugfahrt durch den Rabenauer Grund begingen wir den Fehler, in der Nacht auf Samstag mit dem Nachtzug zurück nach Hamburg zu fahren. In Dresden hatten wir noch ein eigenes Abteil. Ab Halle saßen wir zu Sechst im Abteil und ab Magdeburg standen die Leute auch auf dem Gang dicht an dicht. Einige pöbelnde Typen wurden vom Zugführer in Wittenberge vor die Tür gesetzt...

Die nächsten Wochenenden: Weitere Touren

Wöchentlich ging es in die DDR. Gelernt wurde im Zug. An den folgenden Wochenenden standen nun vor Allem die dampfbetriebenen Schmalspurbahnen auf dem Programm. Um in den Ostharz zu kommen, musste man den Dresdner Nachtzug bis Halle nehmen, wo man vor vier Uhr Anschluss in Richtung Halberstadt hatte. Im Selketal hatten wir nach den furchtbar trüben Monaten Januar und Februar erstmalig Sonne, so dass wir sogar Streckenaufnahmen machen konnten. Anfang März nutzten wir die noch sehr günstigen Schlafwagenverbindungen (13 M Aufpreis), so dass wir an drei aufeinander folgenden Tagen Rügen, Zittauer Gebirge und die Prenzlauer Kreisbahn abklappern konnten. Auf dieser Tour war ich dann auch erstmals in einem typischen DDR-Supermarkt in Zittau. Der Zustand einiger Waren machte einen mitleiderregenden Eindruck. Vielleicht sollten sich diejenigen, die die Mauer wiederhaben möchten, solche Bilder vor Augen führen... Vor der Kaufhalle stand ein ca 50-jähriger Mann, der Blumen verkaufte, die so aussahen, als hätte er sie auf der nächsten Wiese gepflückt. Die Szene hatte etwas derartig menschliches, dass ich Mitleid empfand. Oder bin ich zu konsumverdorben?

Nach den ersten zehn Touren hatte ich mich in meinem Tagebuch ein wenig über das bisher erlebte ausgelassen. Hier einige Auszüge:

"Bei den ersten sieben Touren bekam ich das Gefühl, dass das Urteil, die DR sei unpünktlich, ein Vorurteil sei. Während dieser sieben Touren hatte ich keine einzige nennenswerte Verspätung bei der Reichsbahn. Ab der achten Tour konnte ich mich dann allerdings auch vom Gegenteil überzeugen. Und wenn Verspätung, dann richtig. An Anschlusszüge war da nicht mehr zu denken." (Nachtrag aus dem Jahr 2021: Mittlerweile weiß man es zu schätzen, dass damals bei kleineren Verspätungen (sogar bis +15) eben doch oft auf Anschluss gewartet wurde.)

"Ein anderes Kapitel bei der Deutschen Reichsbahn ist die Sauberkeit (besser: Der Dreck). Besonders ekelhaft sind die Klos. (...) Traurig ist auch die Tatsache, dass es eine große Seltenheit ist, wenn man den Wasserhähnen mal einen Tropfen Wasser entlocken kann. Es ist kein sehr schönes Gefühl, sich den ganzen Tag lang nicht die Hände waschen zu können. Und das bei diesen schmutzigen Wagen, wo alles von einer gewissen Dreckschicht überzogen ist..."

"Natürlich hat man auch neben der Schiene Eindrücke gesammelt. (...) Ob in sozialistischem Einheitsstil gebaut oder ursprünglich, wenigstens sehen die Stadtkerne noch einigermaßen gepflegt aus. Schlimmer sieht es dagegen in den Vorstädten aus. Entweder man findet hier alte farblose Stadthäuser, die in einem furchtbaren Zustand sind oder es gibt aus dem Boden gestampfte Trabantenstädte, die ausschließlich aus vier- und mehrstöckigen Wohnsilos bestehen, welche einzig und allein zu dem Zweck gebaut worden sind, möglichst viele Leute in möglichst kurzer Zeit möglichst preiswert unterzubringen. Dementsprechend sieht das dann auch aus. An das Wort "Begrünung" ist in diesen Stadtvierteln offenbar noch nicht gedacht worden. Leerflächen zwischen den Häusern werden nicht bepflanzt. Eine Leerfläche bleibt wirklich leer, abgesehen von dem Matsch, aus dem eine solche Fläche besteht, und von dem Müll, der sich hier recht schnell ansammelt. Zwar findet man auf der Straße verstreut recht wenig Müll; dafür finden sich teilweise sogar in schönster Natur kleinere Müllhaufen, die wohl nicht immer so ganz offiziell sind."

”Bei den Mehrtagestouren konnte ich weitere interessante Erfahrungen in Sachen Selbstverpflegung machen. Es ist sehr schön, dass man in der DDR preiswert in den vielen Mitropa-Restaurants essen kann. Wann gab es das schon mal [als Schüler], dass ich bei einer Bahnfahrt in Westdeutschland etwas Warmes essen konnte (mal abgesehen von Mc Doof). Die Qualität des Essens und die Atmosphäre in den Mitropa-Restaurants ist vergleichbar mit bundesdeutschen Kantinen (für den geringen Preis ist das Essen durchaus akzeptabel)."

"Trotz der vielen schönen Gegenden, die ich während meiner ersten zehn Touren kennengelernt habe (Harz, Osterzgebirge, Zittauer Gebirge, Rügen, Mecklenburg...) ist die DDR momentan (und sicher auch in den nächsten Jahren) kein Land, in dem ich leben möchte. Die technische, bauliche, umwelttechnische und soziale Anpassung an den Westen wird eine sehr große Herausforderung. Es bleibt zu hoffen, dass der (...) Westen und der (...) Osten dieser Herausforderung gewachsen sind."


Soweit O-Ton Tagebuch aus dem Jahre 1990.

Kapitel 5: Tagesziele, die nur im Nachtsprung erreichbar sind

März: Harz und Thüringer Wald

Inzwischen war die heiße Phase des Wahlkampfes angebrochen. Die ersten wirklich freien Wahlen standen vor der Tür. Wenn es nach dem Wahlkampf ging, hatte die CDU die Wahl bereits klar gewonnen. Bei meiner ersten Tour in den Thüringer Wald am 13.03. klebten an allen erdenklichen Flächen CDU-und nur selten SPD-Plakate. Bei der Wahl am 18.03.90 gewann Lothar de Maiziere (CDU) entsprechend haushoch. (Bei Lothar de Maiziere fällt mir immer diese "Hurra Deutschland"-Puppe mit den Spritzdrüsen auf der Oberlippe ein, die die feuchte Aussprache persiflierte...). Wie unentschlossen viele DDR-Bürger vor der Wahl waren, hatte uns bereits im Februar ein Gespräch mit einem Mitropa-Kellner gezeigt, der uns fragte, was er denn wählen solle...

Die Verspätungen erreichten nun schon kuriose Ausmaße. Als ein Schnellzug von Berlin, auf den wir in Gehlberg zwecks Foto warteten, schon längst überfällig war, meinte der dortige Fahrdienstleiter auf unsere diesbezügliche Frage nur erstaunt: "Wieso, der kommt doch ganz von Berlin. Das sind immerhin über 300 km !" Der Zug hatte letztendlich eine volle Stunde Verspätung. Der Thüringer Wald gefiel mir so gut, dass ich ihn im März gleich zweimal aufsuchte. Und dies mit allen damit verbundenen Strapazen. Nachtzug hin, um 3.38 Uhr in Halle raus und zurück ebenfalls wieder mit Nachtzug ab Leipzig.

Glücklicherweise war der Nachtzug meistens relativ leer, so dass man meistens ein eigenes Abteil hatte. Dummerweise war da noch immer der Grenzaufenthalt in Schwanheide, wo man noch immer gelegentlich den Inhalt der Taschen vorführen musste.

Und als Fahrkarte griffen wir nun immer auf die bewährte Methode zurück, bei der jeweiligen Bahn Binnen-Fahrscheine für den Abschnitt bis/ab Grenze zu lösen. Damit konnten wir vermeiden, für die ganze Fernstrecke den DR-Abzockerpreis von ca 23 West-Pfg/km anstelle 7 Ost-Pfg/km zu bezahlen. Oder wir nutzten weiterhin den Bus von Lauenburg nach Boizenburg. Was für eine komplizierte Anreise selbst eine simple Harz-Tour erforderlich machte (es fehlte einfach die Verbindung Bad Harzburg - Wernigerode), soll folgendes Tourbeispiel zeigen:

Samstag, 14. April 1990: Eisfelder Talmühle

Zunächst waren wir am Freitag noch die Dömitzer Strecke abgefahren, dann begannen wir die Wahnsinns-Nachtfahrt:

D 739: Ludwigslust 20.02 - Leipzig 00.40+10

Dieser Zug war schon mal ein netter Start in die Nacht. Nur Abteilwagen und herrlich leer.

P 7320: Leipzig 1.00 - Halle 1.40

Diesen Zug zu benutzen war nicht so ganz einfach. Kurz vor der Abfahrt - wir hatten es uns gerade im letzten Wagen bequem gemacht - kam folgende Durchsage (in einem Atemzug): "Achtung an Gleis 9 beim Persönenzüg nach Halle bitte nur in die vorderen Wagen außerhalb der Halle einsteigen Bitte einsteigen Türen schließen und vorsicht bei der Abfahrt!" Wir sind aufgesprungen und wie die Wilden nach vorn gerast. Tatsächlich kam da eine Trennstelle, hinter der wir wieder in den Zug reingesprungen sind. Da fing die Aufsichtstante an zu keifen: "Ey, sind sie noch zu retten, der Zug nach Halle hält außerhalb der Halle, ich werd' euch gleich mal helfen...". Wir haben den Zug, der hinter einer zweiten Trennstelle stand, dann gerade noch erreicht. Über die anderen Fahrgäste, die hinten mit uns zusammen im Wagen gesessen hatten, konnten wir nur noch Mutmaßungen anstellen.

In Halle unterhielt uns dann ein Penner in der Bahnhofshalle, der allen von seinen Millionenkonten im Westen erzählte. Als ihn ein kleiner Pudel ankläffte, fing der Penner an, ihn mit seiner Fahrradklingel anzubimmeln. Das nenn' ich Leben, so mitten in der Nacht auf dem Bahnhof. Bald stand dann auch der Nacht-Personenzug nach Nordhausen bereit. In Halle hatten wir kurioserweise weder ein Ticket nach Ellrich, noch nach Walkenried bekommen. Lediglich "Wallkenried" war verfügbar...

P 4520: Halle 02.40 - Nordhausen 04.56

Irgendwie war die Stromversorgung defekt. Daher blieb angenehmerweise in den Bghw-Wagen die Innenbeleuchtung aus. Weniger schön war die ebenfalls nicht funktionierende Heizung. Es war nachts noch immer empfindlich kalt. Da um 04.56 an einen Sonnenaufgang noch nicht im mindesten zu denken war, gab es noch einen Abstecher nach Ellrich, bevor wir dann im ersten Morgengrauen in Niedersachswerfen Ost in die Schmalspurbahn stiegen. Durch die morgendliche Stille waren auf dem Weg zum Ostbahnhof von überall her die imposanten Pfiffe der Dampfloks zu hören.

Den Tag verbrachten wir dann bei ungemütlich-grauem Wetter an der Harzquerbahn, die zu jener Zeit etwas häufiger als heute fuhr. Die Landschaft war natürlich imposant, doch aufgrund des Wetters kamen keine all zu tollen Bilder zustande. Abends gab es natürlich keine Möglichkeit, noch vor Mitternacht zurück in Hamburg zu sein. Daher war folgende aufwendige Rücktour nötig:

D 649: Wernigerode 19.09 - Magdeburg 21.03

In Magdeburg blieb Zeit für eine kleine Stadtbesichtigung. Das Rathaus bestand offenbar nur aus einer historischen Fassade (wenn ich das richtig in Erinnerung habe). Ansonsten wieder viel sozialistische Einheitsbauweise. Die Besichtigung zweier Kirchen sparten wir uns mal, da dort gerade Gottesdienste im Gange waren. Frohe Ostern! Dann fuhren wir zwecks Vergrößerung der Nachtruhe unserem Nachtzug entgegen:

D 739: Magdeburg 22.31 - Köthen 23.19

D 1136: Köthen 23.53 - Hamburg Hbf 05.24

Der Frühling kommt!

Nach den Ostertagen begann endlich die Sonne, uns verstärkt zu beglücken. An den Bäumen zeigte sich erstes Grün und wir stellten fest, dass auch in der bisher fast nur finster-grau erlebten DDR die Büsche in allen Farben blühen konnten... Vögel zwitscherten in allen Tonlagen und die Weite der LPG-Felder leuchtete zuweilen bis zum Horizont in betörendem Gelb. Uns fiel der Wildreichtum auf. Rehe konnte man auf jeder Mecklenburg-Tour erleben, doch oft konnte ich bei späteren Eisenbahntouren still am Bahndamm sitzend sogar Hasen, Füchse und Greifvögel beobachten. Das Wochenende nach Ostern gehörte zu diesen schönen Tagen und ich verbrachte fast den ganzen Tag im Bereich Plüschow (Strecke Lübeck - Bad Kleinen). Zwar führten die Schnellzügen nicht mehr die erhofften Umbauwagen (Byg usw.), die einige Wochen zuvor noch immer als Verstärkung eingesetzt worden waren, doch gab es auch so genug Züge, von denen man sich heute sagt, davon hätte man mehr fotografieren müssen.

Kapitel 6: Die Deutsche Einheit

Der Fahrplanwechsel am 27. Mai brachte nur bescheidene Verbesserungen im Ost-West-Verkehr mit sich.Interessant lediglich für mich als Bergedorfer: Ein neu eingeführter Eilzug Wittenberge - Hamburg hatte einen Verkehrshalt in Hamburg-Bergedorf. Bergedorf war nun nicht mehr bloß S-Bahn-Station!!! Der Lokwechsel in Büchen entfiel zu diesem Zeitpunkt. Die 232 der Reichsbahn gelangten nun bis Hamburg (vorher fanden Streckenkunde-Fahrten für DR-Lokführer mit Schienenbussen statt!) und "unsere" 218 kamen mit einem Zugpaar bis Schwerin. In den DDR-Grenzstationen war der Grenzaufenthalt leicht verkürzt worden.

Am 13. Juni hatte ich meine letzte Abitur-Prüfung. Das Abi war bestanden (wo kann man auch besser lernen als im Zug oder im Warteraum von Schwanheide???) und ich konnte mich nun voll und ganz wichtigeren Dingen zuwenden:
Mitte Juni gab es mal wieder eine längere DDR-Tour mit Nachtfahrt zwischendurch (in einem Bmh- Wagen; vergleichbar mit Silberling; Licht nicht auszuschalten). Auf dieser Tour konnte ich dann auch die für mich ultimativ beeindruckendste Bahnstrecke Deutschlands kennenlernen: Die völlig verkrautete „Franzburger Südbahn“ vom Bahnhofsvorplatz in Velgast nach Tribsees an der Trebel.

Dort fuhr eine rote Ferkeltaxe mit Beiwagen so richtig ins „Blaue“. Die Schienen waren vor lauter Gras- und Krautbewuchs nur noch zu erahnen, die Schwellen nicht mehr zu erkennen. Im Frühjahr war immer Zeit der „Gleisblüte“, da blühte es zwischen den Schienen in allen Farben. Es gab alle paar Kilometer Bedarfs-Haltepunkte, die allerdings oft in totaler Wildnis lagen und nach Orten benannt waren, die irgendwo hinterm nächsten Wald lagen. Zugangswege waren meist nicht mehr auszumachen. Entsprechend zugewachsen waren dann auch die Hps. Aus dem Bewuchs ragende orange Pfähle sollten dem Lokführer anzeigen, wo er zu halten hätte, falls doch mal jemand ein- oder aussteigen wollte. Vier Zugpaare gab es immerhin noch pro Tag. Aus irgendeinem schönen Grunde überdauerte diese Kleinbahn noch immerhin bis 1995. Obwohl das Zugangebot alles andere als reichhaltig war, begeisterte mich die Franzburger Südbahn dermaßen, dass ich in den Folgejahren häufiger mal entlang der Strecke Fahrradtouren mit Streckenaufnahmen verbunden habe. Zu dem Thema sollte in nächster Zeit mal eine Fotogalerie drin sein. (Nachtrag: Zur Galerie "Die Franzburger Südbahn".)

Juli: Endlich mal was anderes

Im Juli hatten wir schon ganz schön viel von der DDR gesehen. Endlich konnten wir auch mal wieder Gedanken an andere Dinge verwenden. Da wir das Abi trotz der vielen Fahrten in der Tasche hatten, gab's als Belohnung von den Eltern eine Skandinavienreise per Nordtourist-Ticket (jetzt Scanrail). Nach den ersten Fahrten in der DDR folgten nun die ersten Fahrten in Skandinavien. Auch ihnen sollten viele folgen. Die Gelegenheit, DR-Wagen im schwedischen Wintersport-Verkehr fotografieren zu können, bekam ich allerdings erst vier Jahre später... Der halbernst gemeinte Satz „Das ist ja wie in der DDR“ wurde zum Standardspruch der Skandinavienreise. Norwegen wurde von uns nun ständig mit der DDR verglichen, so sehr das auch an den Haaren herbeigezogen war. In mein Tagebuch hielt folgender Eintrag zu diesem Thema Einzug: „...Ansonsten muß ich sagen, daß ich mich in Norwegen wesentlich wohler fühle als in der DDR, obwohl man die Sprache nicht versteht.“

Im Anschluss an Skandinavien gab es noch ein Tramper-Ticket, das nicht in der DDR galt. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie DB-Züge von innen aussehen...

Der lange Vereinigungsprozess

Natürlich wurden in der zweiten Jahreshälfte 1990 die DDR-Fahrten fortgesetzt. Ab dem ersten Juli galt in der DDR die "Westmark". Das machte Touren in den Osten nicht gerade preiswerter. Allerdings entfielen nun die teuren Tarife für grenzüberschreitende Fahrten. Unser Junior-Pass wurde bald auch von der Deutschen Reichsbahn anerkannt.

Ein neuer Lebensabschnitt begann für mich am 1. September 1990. Meine Ausbildung bei der Deutschen Bundesbahn nahm ihren Anfang. Heimat-Dienststelle war der Bahnhof Hamburg-Bergedorf, der von der Wende stark betroffen war. Neben dem Fernzug-Halt brachte die deutsche Vereinigung in den folgenden Jahren einen langwierigen Streckenausbau mit sich.

Am 30. September wurden endlich die Schwanheider Bummelzüge in den Westen verlängert, wobei sogar zweimal täglich die Endstation Hamburg-Bergedorf hieß. Als Ausgleich fuhr von Büchen aus nun ein 628.2 in der Lage des Vormittagszuges nach Schwerin. Spaßeshalber wollten mein Ausbildungskollege Lars und ich mal die erste Fahrt des 628 auf mecklenburgischem Boden mitmachen. Und sie staunten nicht schlecht, die Mecklenburger. In Schwanheide kam uns der erste Personenzug nach Hamburg-Bergedorf entgegen. Bis hier fuhr mein Chef, der Leiter des Bf Hamburg-Bergedorf, mit uns. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, den ersten in "seinem" Bahnhof endenden Zug zu begleiten. In Schwanheide fand in Abwesenheit der örtlichen Presse eine feierliche Presentübergabe zwischem ihm und dem Leiter des Bw Hagenow Land statt, dessen Lok ja nun bis Bergedorf fahren sollte. Immerhin waren wir ja da und konnten dieses geschichtliche Ereignis im Bild festhalten.

Und dann ging es mit dem 628 als N 7367 weiter. Für den Reichsbahn-Zugführer (dürfte weit über 60 Jahre alt gewesen sein) brach eine Welt zusammen, weil sich die Türen automatisch schlossen und er praktisch bei der Abfertigung über war. Dass er drin und die Tür geschlossen sein musste, bevor der Zug abfahren konnte, ging für ihn sichtlich gar nicht. Der Büchener Tf war aber geduldig mit ihm und tat so, als ob ihn der vom Zugführer mit sichtlicher Irritation gemurmelte Befehl "Abfahren" ernstlich interessieren würde. Das 1. Klasse-Abteil wurde sogleich zum Dienstabteil erklärt. Einhellige Meinung aller anwesenden Eisenbahner zu dem Triebwagen: Wie soll damit in der Woche bloß der starke Verkehr, für den bisher fünf Wagen erforderlich waren, bewältigt werden? Die Sorge dürfte unbegründet gewesen sein: Der Handel mit alten West-Gebrauchtwagen boomte auf vollen Touren, was nicht gerade zu einem Verkehrsanstieg im Bahnverkehr führte...

Bildstrecke aus Kapitel 6


Am 30.09.1990 steht die erste planmäßig mit 628 gefahrene Zugleistung ins Reichsbahnland in Büchen zur Abfahrt bereit: 628 229 wird sich als P 7367 ein neues Einsatzgebiet erschließen... Die Anzeige "Eilzug" ist falsch, aber "Personenzug" hätte in Büchen wohl auch nicht mehr geschildert werden können ;-)


Während des 31 Minuten langen Aufenthaltes kam unter anderem der P 7362 entgegen, der bis gestern in Schwanheide auf unseren P 7367 gewendet hätte. Der war nun bis Hamburg-Bergedorf verlängert worden (ab Büchen ohne Halt als Eilzug!).


Der Leiter des Bahnhofs Hamburg-Bergedorf und der Leiter des Bw Hagenow Land zelebrieren eine offizielle Begrüßung mit Präsentübergabe und Shakehands. Einfach zwei leitende Eisenbahner, die Spaß an "Ihrer" Sache hatten, ganz ohne Presse. Aber wir waren ja da :-)


Auch der E 2132 kam uns in Schwanheide entgegen; dieser Eilzug von Wittenberge nach Hamburg führte in der Regel Mitteleinstiegswagen und war am 27.05.1990 mit dem Sommerfahrplan eingeführt worden.


Weiter geht es mit unserer 628-Premierenfahrt, hier der Halt in Boizenburg.


Auch in Hagenow Land...


...erregt der Triebwagen Aufmerksamkeit.


Der Fahrplan lässt in Zachun sogar einen kleinen Klönschnack des Bundesbahn-Lokführers mit dem Fdl zu, während sich der Zf sichtlich noch immer nicht mit dem neuen Fahrgerät angefreundet hat.


In Holthusen werden wir von D 439 Hamburg - Dresden mit Kopfmachen in Schwerin überholt. Die 218 gelangte seit 27.05.1990 bis Schwerin.


Ankunft in Schwerin. Der Kuppler fragt sich womöglich gerade, was er abkuppeln soll...

Ab dem 3. Oktober 1990 war die Bundesrepublik Deutschland um fünf neue Bundesländer reicher. Die Grenze gab es nun nicht mehr. Jedenfalls auf dem Papier nicht mehr. Allerdings brauchten Deutsche Bundes- und Reichsbahn noch vier Jahre, um zu einer "Deutschen Bahn" zu verschmelzen. Das äußere Erscheinungsbild der Ost-Städte hat sich nun ziemlich schnell gewandelt. Viel zu schnell verschwanden die "Markenzeichen" der DDR, die heute gern als "Ostalgie" bezeichnet werden. Der Autoverkehr stieg exponentiell, langsame Bahnstrecken und dünne Fahrpläne stellten keine ernsthafte Konkurrenz dar. So boten die "Deutschen Bahnen" zum Beispiel im Jahre 1992, als längst die erste Auto-Welle über die neuen Länder geschwappt war, für die Stadt Boizenburg immer noch bloß die vier Nahverkehrszug-Paare an, die schon vor der Wende existiert hatten, ergänzt lediglich um zwei Eilzug-Paare tagsüber. Von einem Taktverkehr war nicht die Rede. Die mecklenburgischen Nebenbahnen bekamen den festen Zwei-Stunden-Takt sogar erst im Juni 1996! Die Fahrgäste waren schon seit fünf Jahren weg...

Mittlerweile ist die Wende zehn Jahre her. In diesen zehn Jahren habe ich die neuen Länder ausführlichst bereist. Mittlerweile fühle ich mich dort nicht minder wohl als in Köln oder München. Manche Freundschaften sind entstanden. Doch sie werden unvergessen bleiben: Die überfüllten Sonderzüge im "Deutschen November" und meine ersten Schritte im Osten. Ein Leben lang.

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