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Eine Übersichtskarte gibt es von der BDZ:
Hier mal kliggen!
Alles andere hätte uns auch gewundert: Wenn ein Zug "Transbalkan" heißt und mit Wagen aus Tschechien und der Slowakei von Ungarn über Rumänien und Bulgarien nach Griechenland fährt, darf man eigentlich erwarten, dass er es mit dem Fahrplan nicht ganz so genau nimmt. Aber gleich dreieinhalb Stunden? Es ist Abend, 23 Uhr, und wir warten auf dem schmutzigen Hauptbahnhof von Sofija, der Hauptstadt Bulgariens, auf den Nachtzug nach Thessaloniki.
Am Tage nicht ganz so finster: Die Bahnhofshalle des Hauptbahnhofes von Sofija. |
Wieso ausgerechnet Bulgarien? Eigentlich war es der Reiz des Unbekannten. Mal ehrlich - mit dem Wissen über den nur 1000 km entfernt gelegenen Balkanstaat ist es in Deutschland nicht allzu weit her. Auch in Szenekreisen der Eisenbahn, wo Zuckerrohrbahnen auf Java oder Detailkenntnisse über die Fahrzeuge der rumänischen Waldbahnen quasi zum Alltagsgeschäft gehören, waren diesbezügliche Informationen recht dünn gesäät. Zwei Schmalspurbahnen solle es in Bulgarien geben, sonst wusste man nicht viel.
So hatte unser Vorhaben, mit Bahn und Rucksack auf eigene Faust für zwei Wochen zu einem der wenigen weißen Flecken auf der Landkarte aufzubrechen, für manch eine(n) Bekannte(n) fast schon den Charakter einer Überlebensexpedition. Trotzdem sollte die Reise mitnichten eine reine Fuzzytour im Zeichen des Spurkranzes sein. Vielmehr wollten wir auch ein wenig hinter die Kulissen des fremden Landes schauen und Eindrücke vom alltäglichen Leben, vom Charakter Bulgariens erfahren; und die bekommt man in Bahnbetriebswerken genau so wenig wie bei einem zweiwöchigen Badeurlaub in einer Bettenburg an der Schwarzmeerküste. So starteten wir zu einer Reise ins auch für uns ziemlich Ungewisse - in der Hoffnung, dieses Ungewisse in den folgenden zwei Wochen zu einem Bild dieses Landes formen zu können. Und wohl nirgendwo anders lernt man unterwegs Land und Leute besser kennen als bei einer Reise mit der Eisenbahn.
Dieser Reisebericht handelt von einem Land, dessen positive Eindrücke wir - soviel sei bereits an dieser Stelle gesagt - zumeist aus der oftmals großartigen und unberührten Landschaft, aber auch aus der offenen und herzlichen Art der Menschen aufnehmen. Dagegen werden wir aber allenthalben mit Verfall und einer recht offensichtlichen Ignoranz gegenüber dem, was in unseren Augen als "schön" betrachtet wird, konfrontiert, Das kann auf Dauer ziemlich deprimierend wirken, erst recht bei trübem Wetter.
Während man in den östlichen Bundesländern Deutschlands, aber auch in den benachbarten ehemaligen Bruderstaaten (Tschechien, Polen) allenthalben sieht, was in den vergangenen zwölf Jahren an Substanzerhaltung und Aufbauarbeit geleistet wurde, so bekommt man man in Bulgarien mit Ausnahme einiger weniger "Mikrokosmen" wie etwa dem Touristenzentrum Varna oder der als Unesco-Weltkulkturerbe eingeordneten und wie ein Amphitheater in eine Flussschleife erbaute alte Hauptstadt Veliko Tarnovo den Eindruck, als würde das Land seit der friedlichen Revolution in Stagnation verharren. Alles wirkt fürchterlich verfallen und ungepflegt. Zwar ist Bulgarien nicht erst seit 1997, als das Land kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stand, eines der ärmsten Länder Europas. Ob es aber primär von der Liquidität abhängig ist, den Müll die nächstbeste Böschung hinunter zu kippen, mal ein Fenster zu putzen oder ganz profan eine Tür so in ihre Angeln zu hängen, dass sie richtig schließt, soll vor dem Hintergrund der vielleicht übertriebenen westlichen Wertmaßstäbe an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.
Schaf-, Ziegen- oder auch gemischte Herden trifft man überall in Bulgarien an. |
Ganz im Gegensatz zum augenscheinlichen, menschenbedingten "Zustand" des Landes stehen, wie erwähnt, die wunderschönen, mitunter als spektakulär zu bezeichnenden Landschaften, in denen man vielfach eine hier zu Lande kaum mehr vorhandene Unberührtheit vorfindet. In den Rhodopen schliefen wir unter freiem Himmel, und wären dort nicht die in mehrstündigen Abständen durch das Tal brummenden Schmalspurzüge gewesen, hätte man glauben können, alleine auf der Welt zu sein. Hinzu kommen die unverdorbene Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen, bildhübsche Mädchen und für westliche Touristen erfreulich volkstümliche Preise. Ein gutes Essen bekommt man inclusive Getränk für fünf Mark, der Platz im "Double" eines Schlafwagens schlug mit 25 DM zu Buche.
Seit die bulgarische Währung Lew an die Deutsche Mark gekoppelt ist, gestaltet sich die Umrechung denkbar einfach, denn ein Lew ist genau eine DM. Der in Deutschland vorsorglich erworbene Euro-Domino-Netzfahrschein, der für rund 40 DM am Tag unbegrenztes 1.-Klasse-Bahnfahren in Bulgarien erlaubt, erwies sich als glatte Fehlinvestition, denn die teuerste in Bulgarien mögliche Fahrt - von der Schwarzmeerküste bei Varna im Nordosten an die griechische Grenze bei Kulata im Südwesten, etwa 750 km - kostet in der 1. Klasse im Express keine 30 DM. All das erfuhren wir aber erst während unserer Reise, die Ende August im sommerlichen Dresden beginnt.
Ausschlafen ist Trumpf, denn ein langer Tag steht ins Haus. Nach diversen Erledigungen in der Stadt, u.a. dem Kauf von "Euro-Domino"-Netzfahrscheinen für Bulgarien und dem Kopieren des bulgarischen Kursbuches, welches uns der freundliche Mitarbeiter am Dresdner Hauptbahnhof zur Verfügung stellte, treffen wir uns abends um neun am Flughafen. Eigentlich wollten wir ja stilecht mit dem Zug auf den Balkan reisen. Das hätte zwar eineinhalb Tage gedauert, doch ein Gefühl für die Entfernung, die Eindrücke der sich über diese Entfernung verändernden Landschaftsbilder und nicht zuletzt auch von der Mentalität eines Landes und ihrer Menschen gewinnt man nirgends so eindrücklich wie auf einer Eisenbahnreise.
Mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbare Tücken im Tarif - so gilt beispielsweise die "Bahn-Card plus", die bei Fahrten ins Ausland 25% Fahrpreisermäßigung gewährt, zwar auch in Bulgarien, aber Bulgarien selbst darf nicht das Zielland sein (?) - führten jedoch dazu, dass wir das Vorhaben einer schlussendlich rund 600 DM teuren Bahnfahrt zzgl. Transitvisum für Rumänien zugunsten zweier Restplätze in einem Charterflieger, der uns in weniger als zwei Stunden für schlappe 290 DM pro Nase nach Varna und zurück brachte, aufgaben.
Abends treffe ich mich mit Tilo am Flughafen. Gemäß der alten Inter-Rail-Packregel "packe von dem, was Du mitnehmen willst, genau die Hälfte ein", beschränkt sich unser Gepäck für die kommenden zwei Wochen auf je einen mittelgroßen Rucksack nebst Schlafsack. Der Check-in verläuft so reibungslos, als handele es sich um eine Ausreise nach Frankreich oder Dänemark. Die Abflugszeit ist um 15 Minuten vorverlegt, und so hebt die Tupolev der Via-Air um 22 Uhr gen Südosten ab.
Warum Tupolevs im Volksglauben stets als potenziell absturzgefährdet gelten, entzieht sich meiner Kenntnis. Das uns durch die nächtlichen Lüfte tragende Exemplar ist jedenfalls keine fünf Jahre alt, und bei den mir bekannten Abstürzen in der vergangenen Zeit handelte es sich immer nur um Boeings, Airbusse und als prominentester Pechvogel die Concorde.
An Bord gibt es Hühnercurry und gegen Aufpreis auch Hochprozentiges. Es ist mein erster Flug in einer Chartermaschine. Offenbar ist es hier üblich, dass nach der Landung geklatscht wird. Wer´s braucht... Nächstes Mal klatsche ich auch, wenn der Busfahrer sein Gefährt an einer Haltestelle zum Stehen gebracht hat.
In Varna herrscht selbst nachts um halb eins eine solche Schwüle, dass sogar die Haltestangen im Flughafenbus und die Kakerlaken in dem im 70-er-Jahre-Stil gehaltenen Terminal beschlagen sind. Halb eins in der Nacht - eine bescheuerte Zeit, um irgendwo anzukommen. Na ja, selbstgewähltes Elend. Wenigstens warm ist es.
Es stellt sich heraus, dass wir nicht die einzigen "Nur-Flug"-Passagiere (also ohne Pauschalreise mit Hotel & Co.) sind, die zum Bahnhof möchten. Nach einigem Hin und Her auf den ziemlich unbequemen Flughafenbänken beschließen wir, uns von den beschlagenen Kakerlaken zu verabschieden und die angebrochene Nacht lieber in der Stadt zu verbringen. Da der Bus dorthin nach Angaben des Flughafenpersonals erst morgens um sechs Uhr verkehrt, bewegen wir uns zum Taxistand. Mit Händen, Füßen und einem Gemisch aus Deutsch und Russisch drücken wir den Preis für eine Taxenfahrt nach Varna City von 25 auf 20 Lewa bzw. DM.
Einige Zeit später finden wir uns um halb zwei vor dem verschlossenen Bahnhof von Varna wieder. Zunächst sitzen wir bei angenehmen 21°C in einem noch geöffneten Schnellrestaurant in einer kleinen Parkanlage unweit des bis 5 Uhr geschlossenen Bahnhofes und halten uns an einer Art Hamburger für knapp 2 Lewa und Coca-Cola für 50 Pfennige fest. Die Erfüllung ist das nicht, und so seilen sich Tilo und ich uns nach einem Blick auf den aushängenden Stadtplan, welcher jedoch keine Maßstabangabe enthält, in Richtung Strand ab. Dieser ist entgegen der Befürchtung nur rund 10 Minuten vom Bahnhof entfernt, und keine weiteren fünf Minuten später tauchen wir nachts um kurz nach zwei splitterfasernackt in das um diese Uhrzeit seinem Namen alle Ehre machende und angenehm temperierte Schwarze Meer ein. Der Urlaub fängt gut an!
Anschließend nächtigen wir zunächst mehr oder weniger wach bei unserem Gepäck am Strand. Dann ziehen wir einige Meter weiter an eine Mole und kriechen in die Schlafsäcke, da es doch ein wenig frisch wird.
Der Dom zu Varna, davor ein O 345. |
Geweckt werden wir einige Stunden später von den ersten Sonnenstrahlen und einer Armada von Möwen und Tauben. Ob meine Schuhe einen nächtlichen Liebhaber gefunden haben oder ich sie nach unserem aufgrund der zu erwartenden Temperaturen bereits in Sandalen angetretenen Rückzug zum Bahnhof einfach nur am Strand vergessen habe, wird wohl ewig ein Geheimnis der bulgarischen Geschichte bleiben. Jedenfalls kommen wir gerade noch rechtzeitig zur Abfahrt des Expresszuges Richtung Sofija am Bahnhof an, der sich, kaum dass wir in unserem 1.-Klasse-Abteil Platz genommen haben, auch schon in Bewegung setzt. Wäre dann doch ein wenig ärgerlich gewesen, die ganze Nacht auf einen Zug zu warten, um diesen dann schlussendlich doch zu verpassen.
Ebendieser Zug ist mit Ausnahme der in der untergegangenen Tschechoslowakei hergestellten Elektrolok fast vollständig Made in der ebenfalls untergegangenen GDR. Mindestens ein Wagen wurde, wie man diversen Hinweisschildern wie "Nicht hinauslehnen" oder einem auch im tiefsten Bulgarien unverdrossen für die Deutsche Bahn AG werbenden Aufkleber im Wageninneren unschwer entnehmen kann, offenbar gebraucht von der DB gekauft. Der Schaffner dagegen ist ein echter Bulgare und weiß mit unseren Euro-Domino-Tickets nicht so Recht etwas anzufangen. Jedenfalls trägt er es mit Fassung und zeigt die Fahrkarten stolz seinen Kollegen. So etwas hat er ja noch nie gesehen. Dass wir keinen Gültigkeitstag eingetragen haben, bleibt unbemerkt.
Draußen zieht zunächst die tief ins Landesinnere hineinragende Varnaer Bucht mit viel nicht unbedingt als schön zu bezeichnender Industrie an den Ufern am Fenster vorbei. Einige der Fabriken würden in Deutschland einem Industriemuseum zur Ehre gereichen, doch scheint man hier hinter manch einer bröckelnden Fassade noch produktiv tätig zu sein. Dann rollen wir durch ein karstiges Felsengebirge mit dazwischen liegenen Ebenen, unterbrochen von kleinen grauen Dörfern und Städten, die primär aus Plattenbauten und ungepflegten Nachkriegsbauten zu bestehen scheinen, in denen unser Express aber zumeist nicht hält. Auf einigen parallel verlaufenden Straßen überholen wir Ladas, Trabanten und - wie in alten Filmen - auch Pferdefuhrwerke in nicht unerheblicher Anzahl. Manchmal ist das Pferd sogar ein Esel. Inzwischen ist es auch recht warm geworden, und durch das weit geöffnete Fenster lassen wir uns die in Deutschland in diesem Sommer bislang recht raren Sonnenstrahlen in das Gesicht scheinen und den staubigen Fahrtwind um die Nase wehen.
Nacheinander besuchen wir den Speisewagen und löhnen rund 10 Lewa für eine Art Natursteak mit Paprika und Tomaten nebst Getränk. Das haben wir uns etwas anders vorgestellt. Der Speisewagen selbst ist füchterlich schmuddelig und scheint seit seiner Herstellung anno 1984 im fernen VEB Waggonbau Bautzen nicht groß gereinigt worden zu sein. Nur die Sitzbezüge sind sauber, offenbar verfährt man nach dem Motto "Neubezug ersetzt die Reinigung".
Der Zug schlingert und schaukelt mit 100 bis maximal 130 Sachen über die schwankenden Gleise, dass einem Angst und Bange wird. In Deutschland hätte man bei dieser Art von Schienen schon längst drastische Langsamfahrstellen eingerichtet, in Bulgarien scheint man das etwas lockerer zu nehmen. Aber egal, wir bleiben in der Spur.
Inzwischen hat uns der Schaffner die Tickets zurück gegeben und kassiert nun, damit ihm nicht auch der letzte Rest seiner Autorität verloren geht, für die obligatorische, bei uns aber nicht vorhandene Platzreservierung 2,50 Lewa. In Gorna Orjahovica, wo die Ost-West-Strecke Varna - Sofija die Nord-Süd-Achse von der rumänischen Grenze über das Balkangebirge kreuzt, werden wir am frühen Mittag vom Schaffner persönlich verabschiedet.
Der Zug, der uns von Gorna Orjahovica nun in südliche Richtung über das Balkangebirge bringen soll, ist ein keimiger Elektrotriebzug sowjetrussischer Bauart und führt nur die 2. Klasse. Die Schaffeuse in diesem Vorortzug scheint im Dienstunterricht besser aufgepasst zu haben, denn wir müssen den Geltungstag in unserem Dominofahrschein nachtragen, wie ärgerlich. Statt der zulässigen drei Tage, die man selbst eintragen muss, hätten wir sonst noch länger damit fahren können. Kaum haben wir auf den schmierigen Kunstledersitzen Platz genommen, setzt sich der Zug auch schon heulend in Bewegung. Durch ein schluchtenartiges Tal kämpft sich der Triebzug auf windungsreicher Strecke in gemäßigten Tempo hinauf in die Berge.
Die eindrucksvollen Landschaftsformationen können durchaus mit den vielgerühmten Alpentälern konkurrieren, nur dass die Vegetation hier nicht aus Nadelbäumen, sondern primär aus ziemlich dornig ausschauenden Laubbäumen und trockenem Bodensträuchern zu bestehen scheint. Wir passieren kleine Bergdörfer, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, sowie eine terrassenförmig in eine Flussschleife hinein gebaute Stadt. Der Nebel in den Tälern ist leider nicht echt, sondern resultiert aus den ungeputzten Fensterscheiben unseres Zuges. Etwa eine gute Stunde können wir uns an dem Schauspiel und den für mitteleuropäische Augen z.T. recht ungewohnten Landschaftsbildern ergötzen, dann bleibt unser Zug schließlich und ohne ersichtlichen Grund in einem kleinen Bahnhof namens Zarewa Liwada, mitten in den Bergen des Balkangebirges, einfach stehen und macht auch keinerlei Anstalten, in nächster Zeit weiter fahren zu wollen. Dem Bahnhof zugehörig sind eine kaum als Dorf zu bezeichnende, schüchterne Ansammlung von Häusern.
T: Außerplanmäßig ist in Zarewa Liwada die Fahrt zuende. |
Offenbar haben die Altvorderen seinerzeit diese Station nur für die hier abzweigenden Stichstrecke in die Bergstadt Garbowo errichtet. Hier, in diesem ziemlichen Nichts in den Bergen, stehen wir nun also mit unseren Rucksäcken wie Max in der Sonne und kommen weder vor noch zurück. Da auch hinauf nach Garbowo kein Zug fährt, haben wir nun zwei Stunden zwangsweisen Aufenthalt. Zum Glück sind auf dem Bahnsteig einige Freß- und Trinkbuden aufgebaut. Vor uns eine Wurst und eine kalte Cola beobachten wir zunächst unter dem Schutze des Sonnenschirms das Treiben auf dem Bahnhof, der, obgleich in den nächsten zwei Stunden kein Zug fährt, immer von Menschen bevölkert ist, wo immer diese auch herkommen mögen. Zeit scheint hier jedenfalls nur eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen. Auch wir lassen uns davon anstecken und tun erst einmal - Nichts. Zudem ist es inzwischen, trotz der Höhe von über 400 Metern über dem Meer, ziemlich warm geworden.
Kurz nach 15 Uhr nähert sich der nächste Zug aus Gorna Orjahovica nach Stara Sagora, südlich des Balkangebirges. Als wir uns anschicken, diesen zu besteigen, gibt uns eine Eingeborene gestenreich zu verstehen, dass dieser Zug heute hier endet und nicht weiterfährt. Grrrr! Hasskappe! Der keimige Russentriebwagen zurück nach Gorna Orjahovica ist natürlich auch gerade abgefahren, der nächste fährt um 16.34 Uhr, auch hinauf nach Garbowo fährt Nichts, und herzlichen Glückwunsch auch. Gestrandet in Zarewa Sowieso! Nochmal 1 ½ Stunden zwangsweises Nichtstun. Willkommen in Bulgarien! Hoffentlich geht das nicht die ganzen nächsten zwei Wochen so weiter. Anhand der im Bahnhof ausgehängten Informationen erfahren wir auch nicht, wieso hier heute die Welt zu Ende ist. Dafür haben wir ausgiebigst Zeit, Fotos von den im Bahnhof Siesta haltenden Zügen zu schießen. Dass wir dabei quer über die Gleise laufen und zum Fotografieren einen Güterwagen besteigen, wird vom Bahnpersonal mit latentem Desinteresse zur Kenntnis genommen.
Kurz gesagt - um 17.40 Uhr sind wir wieder dort, wo wir vor gut sechs Stunden schon einmal waren: in Gorna Orjahovica. Das war zwar nicht geplant, hat sich aber so ergeben, denn nach fast vier Stunden in der Pampa wollten wir eigentlich nur noch weg aus dem blöden Zarewa Undsoweiter, und der nächste Zug, der uns diesen Wunsch erfüllen konnte, fuhr nun einmal nach Gorna Orjahovica. Wir beschließen daher, umzudisponieren und unser Glück nördlich des Gebirges zu versuchen, wenn wir schon nicht in den Süden kommen. In der Theorie sah das auch recht vielversprechend aus, denn in Gorna Orjahovica sollte zehn Minuten nach unserer Ankunft der Schnellzug "Transbalkan" nach Thessaloniki über Sofija einfahren, mit dem wir nun bis Cerven Brjag fahren wollten, um dort am nächsten Tag die örtliche Schmalspurbahn zu besuchen.
Der "Transbalkan" kam jedoch schon aus Prag über Budapest und Bukarest. Er war somit schon zu einer Zeit ins Rennen gegangen, als wir uns längst noch in Dresden befanden, und hatte daher schon eineinhalb Tage Zeit, in diversen Ländern Europas ordentlich Verspätungsminuten zu sammeln. In diesem Falle waren es derer 90, so die Ankündigung in der Bahnhofshalle. Das würde eine Ankunft in Cerven Brjag gegen 22 Uhr bedeuten, und wenn wir dann Nichts zum Übernachten finden würden, hätten wir ein Problem.
Bauruinen in Gorna Orjahovica. |
Bevor wir uns aber intensiver mit dererlei Problemen beschäftigen, ist erst einmal ein Foto mit einem im gegenüber liegenden Güterbahnhof wartenden Großrussen, einer auch in Deutschland eingesetzten Bauart Diesellokomotive aus der Sowjetunion, fällig. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade, und daher laufen wir unter den Augen des freundlich zurück grüßenden Stellwerkspersonals quer durch den Güterbahnhof. Bei so einer Aktion wären wir in Deutschland von der Bahnpolizei zumindest vorläufig erschossen worden, hier aber zeigen uns die Trampelpfade zwischen den Gleisen, dass der Weg durch den Güterbahnhof offenbar auch von den Bewohnern der gegenüber liegenden Wohnsiedlung genutzt wird. Zustände wie im alten Rom, aber stressfreies Arbeiten.
Zurück auf den Bahnsteig, kurze Bestandsaufnahme unserer bedauernswerten Situation: Gorna Orjahovica, kurz nach halb acht, kein Plan und alle Züge zu spät, und zur Krönung sieht es mit Lewas auch nicht mehr so üppig aus. Es verspricht, ein toller Abend zu werden, während wir uns gegenseitig an einem Brunnen auf dem Bahnsteig mit Wasser nassspritzen. Wider Erwarten treibt Tilo bei einem Trip durch die kleine Stadt aber auf einmal eine Wechselstube auf. Mit frischen Lewa in der Tasche sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, und wir entschließen spontan, uns gegenüber des Bahnhofes in einem kleinen "Chotel", was in Bulgarien z.T. einer Privatpension entspricht, einzunisten, heute also nicht mehr weiter zu fahren. Damit nimmt der verkorkste Tag plötzlich eine positive Wende: Für 10 Lewa pro Nase erhalten wir ein kleines, gepflegtes Doppelzimmer mit Dusche. Im Restaurant "Romantica" auf der anderen Straßenseite gibt es ein mehr als üppiges Abendmahl, und am Bahnhof erstehen wir tatsächlich das aktuelle Kursbuch der Bulgarischen Eisenbahn. Jetzt noch kühl duschen, gleich im T-Shirt, aaah, herrlich, und dann ab in die Falle.
In Bulgarien sind die Abende lang, denn bis spät in die Nacht herrscht auf den Straßen und in den umliegenden Gaststätten Whooling mit entsprechender akustischer Untermalung. Die halbe Stadt scheint um diese Zeit auf den Beinen, man sitzt vor den Häusern oder führt sein neues oder frisiertes Mofa den vor den Häusern sitzenden Nachbarn vor. Nach dem vorhergehenden Tag und der kurzen Nacht am Strand hindert uns der Krach unter dem Fenster - immerhin befindet sich im Erdgeschoss unseres Hauses ein Billardsalon, und dauernd geht es Klack... Klack... - jedoch nicht am Schlafen, so dass wir morgens ausgeruht aus den Federn steigen. Heute ist nämlich Kultur angesagt: Bei der gestrigen sinnlosen Fahrt in die Berge ist uns mehr oder weniger zufällig jene bereits erwähnte Stadt aufgefallen, die terrassenförmig an den Hang in einer Flussschleife gebaut ist. Veliko Tarnovo, so der Name der Stadt, wurde auch vom Reiseführer wärmstens empfohlen, denn immerhin gilt das Stadtensemble als UNESCO-Weltkulturerbe. Also - auf ins Mittelalter!
Den 8-Uhr-und-Zug haben wir einfach mal den 8-Uhr-und-Zug sein lassen und ausgeschlafen. Halb zwölf geht´s los, Fahrpreis für die knapp 15 Kilometer: 70 Pfennige.
Veliko Tarnovo |
Der Bahnhof liegt natürlich im Tal der auf mehrere Bergzungen des mäandrierenden Jantra-Flusses erbauten Stadt. Aber der Aufstieg lohnt sich, und nach einem Bergmarsch im Schweiße unserer Füße finden wir uns alsbald in einem Kleinod von Bergstadt wieder, wie man es in Italien nicht schöner finden könnte - einschließlich der mitunter recht morbiden, "romantisch-verfallenen" Bausubstanz, die in Deutschland kurzerhand als "Bruch" interpretiert werden würde, hier aber gar nicht störend wirkt, sondern irgendwie zum Gesamtbild dazuzugehören scheint. Insgesamt macht die Stadt trotzdem einen recht gepflegten Eindruck, was man von den sonstigen Siedlungsgebilden jedweder Art, die uns in Bulgarien bislang unter die Augen gekommen sind, nicht unbedingt behaupten kann.
In einem Straßencafé nahe des Zentrums gibt´s gut Speis und vor Allem Trank, denn die Sonne brennt erbarmungslos. Auch nehmen wir erfreut zur Kenntnis, nicht die einzigen Touristen in dieser Stadt zu sein. Das Procedere beim Geldwechseln in der örtlichen Filiale der Staatsbank machte dagegen eher den Eindruck, als würde man das erste Mal mit einer fremden Währung in Kontakt gebracht. Immerhin beschäftigen wir mit unserem Anliegen drei Bankangestellte für mindestens zehn Minuten.
Die Hitze hindert uns jedoch nicht daran, die dem Ort zugehörige und in einer weiteren Flussschleife gelegene Ruine der Festung zu stürmen, die einst der Zarenpalast gewesen ist. Einige Wasserbrunnen entlang der Straße machen den Weg dorthin erträglich. Viel mehr als die Grundmauern und der Neubau der Patriarchenkirche sind von dem Palast allerdings nicht übrig geblieben, aber für den von 4 auf 2 Lewa herunter gehandelten Eintrittspreis werden wir mit herrlichen Ausblicken auf die umliegende Bergwelt belohnt. Am Nachmittag machen wir noch ein paar Eisenbahnfotos, die sich sehr schön mit der historischen Bergstadt umsetzen lassen.
Auf dem Rückweg steigen wir in Trapesitza, einem kleinen Haltepunkt hinter Veliko Tarnovo ein. Dort gibt es keine Fahrkarten, und da auch der Schaffner im Zug trotz Nachfrage keine Lust hat, uns welche zu verkaufen, sparen wir die rund 50 Pfennige für die Fahrt zurück nach Gorna Orjahovica. Aus dem Zug geht es dann schnurstracks unter die kalte Dusche, wieder mit T-Shirt. Sehr angenehm, und auch das T-Shirt duftet danach wieder nach Seife.
Was den Schnellzug von Gorna Orjahovica nach Plovdiv zum Schnellzug erhebt, ist weniger seine Fahrgeschwindigkeit als vielmehr die Tatsache, dass er an der einen oder anderen Station nicht hält. Auch bringt er uns - im Gegensatz zu den Bummelzügen vorgestern - bis ganz über das Balkangebirge und demonstriert, dass auch hinter Zarewa Liwada tatsächlich noch Schienen liegen. Und was für welche: Auf einer spektakulär trassierten, eingleisigen Strecke mit 23 Tunnels, Kehrschleifen und Viadukten überwinden wir in gemächlicher Fahrt das felsige und ganz Südosteuropa seinen Namen gebende Balkangebirge, welches das Land in Ost-West-Richtung quasi in zwei Hälften teilt.
Dahinter ist´s weniger spektakulär, denn in Südbulgarien erinnert die Landschaft, karg und öde, eher an eine Savanne. Mit einem Eingeborenen älteren Semesters, der uns zunächst für Rumänen hält (das gibt zu denken), legen wir in gut fünf Stunden die 248 Kilometer bis Plovdiv zurück und zahlen dafür einschließlich Zuschlag etwa 8 Lewa.
"Das freundliche Personal erwartet Sie in unserem Bordtreff"... |
Der vergitterte Verkaufstresen des mitlaufenden Barwagens sieht aus wie eine Gefängniszelle. Auch das Speisenangebot entspricht dem, was man sich in einer Gefängnisküche so vorstellt, denn außer ein paar Knabbereien ist nichts Essbares im Angebot. Der Zustand der Gleise konkurriert mit dem der unzähligen Bauruinen, die allenthalben unmotiviert in der Landschaft stehen. Manche sind wenigstens zum Teil fertig gestellt und im unteren Teil bewohnt, andere bestehen nur aus dem Betongerippe oder dem Fundament. Vielleicht erfahren wir ja noch, was es mit den ganzen Bauruinen in diesem Land auf sich hat.
Obwohl wir uns auf einer elektrifizierten Hauptstrecke bewegen, rollen wir mit dem von ostdeutschen Nebenbahnen gewohnten "Tempo" südwestwärts. Was ich jemals über die griechischen Eisenbahngesellschaft OSE gesagt habe, nehme ich hiermit zurück.
Mit 20-minütiger Verspätung erreichen wir um 14.30 Uhr Plovdiv, die nach Sofija zweitgrößte Stadt Bulgariens. Der Bahnhof von Plovdiv ist mit seinen sechs Gleisen nicht viel größer als ein deutscher Kleinstadtbahnhof, aber recht gepflegt. Vom Fußballschuh über Kekse bis zum Rolex-Plagiat bekommt man an diversen Buden in und um den Bahnhof nahezu alle Dinge, die man nicht braucht, nur einen Stadtplan gibt es auf dem Bahnhof nicht. So laufen wir zunächst zielstrebig in die falsche Richtung. Ein feudales Hotel mit Springbrunnen in Bahnhofsnähe verlangt 80 Lewa bzw. DM für ein Doppelzimmer. Wäre zwar o.k., aber das müsste es in Bulgarien doch auch preiswerter geben. Also bewegen wir uns durch die Ivan-Vasov-Straße in Richtung Zentrum, aber: Kein Hotel, keine Pension.
Mit zunehmender Entfernung sinkt die Laune, und auch ein geöffneter Postschalter für Briefmarken, tief im Inneren eines realsozialistischen und ansonsten augenscheinlich leerstehenden Postgebäudes versteckt, bringt ob der ebenfalls realsozialistisch-mürrischen Schalterbeamtin keine Besserung. Schließlich landen wir in der ziemlich edlen Fußgängerzone, wo internationale Ladengeschäfte auf zahlungskräftige Bulgaren warten. Irgendwo zwischen Benetton und Burger King stoßen wir aber auf die Zimmervermittlungsagentur von Irina Darpatova. Selbige vermittelt uns für 22 Lewa ein Privatquartier in der - genau, in der Ivan-Vasov-Straße! Also kehrt Marsch in Richtung Bahnhof.
Das Quartier erweist sich als die Villa in Nummer 29, in der die alte Maria Tulowa mit ihrem Mann lebt. Vorsichtig klingeln wir. Nach einer Weile öffnet uns eine alte Frau die große Haustür. Die Begrüßung erfolgt dann jedoch auf eine so herzliche Art und Weise, als würden wir uns schon Jahre lang kennen! Familie Tulow spricht fließend deutsch, immerhin hat Herr Tulow vor vielen langen Jahren mal in Dresden zu tun gehabt. In dem altehrwürdigen Haus beziehen wir ein üppig dimensioniertes Zimmer mit Parkettfußboden und Waschnische. Auch der gusseiserne Klospülkasten mit dem erhaben ausgeführten Schriftzug "Beyer-Kasten" scheint aus einer ganz anderen, vielleicht besseren Zeit zu stammen. Alles atmet den Glanz vergangener Tage. Wie Familie Tulow dieses Haus so ganz alleine in Schuss hält? Irgendwie scheinen wir für die Tulows schon fast zur Familie zu gehören, so werden wir hier empfangen. Und ob wir wirklich nur eine Nacht bleiben wollten? Na, mal sehen... Während ich hier schreibe, quengelt Tilo, er will am Bahnhof fotografieren. Also, auf zum Bahnhof.
Der Trip zum Bahnhof war wenig ergiebig, die Stadt dafür umso mehr. Quirlig, bunt, lebendig und im Gegensatz zum übergroßen Rest des Landes sehr gepflegt Für´s entwöhnte Auge flanieren der Temperatur angemessen sparsam bekleidete Damen und solche, die mal welche werden wollen, durch Fußgängerzone und Altstadt, die in einem scharfen Kontrast zum doch recht ungepflegten und allenthalben Verfallserscheinungen zeigenden Rest des bisher von Bulgarien Gesehenen stehenden.
Blick vom Amphitheater auf Plovdiv. |
Wir besteigen einen der sechs Hügel von Plovdiv, wandeln durch enge Altstadtgassen, tafeln in einem Gartenrestaurant inmitten der historischen Burgmauern, besichtigen Wiedergeburtshäuser, ein antikes Amphitheater aus der Römerzeit und blicken vom Berg auf die Stadt hinab, deren Hintergrundkulisse am südlichen Horizont das mächtige Rhodopengebirge bildet. In einem Straßencafé lassen wir bei Cola mit einer Kugel Vanilleeis den Tag ausklingen. Längst wich die gereizte Stimmung vom Mittag der der Stadt zu eigenen Lässigkeit, einer in Deutschland nahzu unbekannten Stadt, die es gar nicht nötig hat, mit ihren Reizen zu prahlen. Und abends, bei der Rückkehr in die Villa, begrüßt uns die alte Frau Tulowa wie ihre Enkel. Ich komme wieder, irgendwie, irgendwann...
Ob es die Cola mit der Kugel Vanilleeis war? Wie auch immer: In der Nacht muss ich mehrmals den Beyer-Kasten in Anspruch nehmen und entledige mich in mehreren Etappen durch alle verfügbaren Körperöffnungen der Mahlzeiten des vergangenen Tages.
Entsprechend mies, mit rumorendem Bauch, fühle ich mich am kommenden Tag. Zu allem Überfluss verpassen wir um wenige Minuten den Bummelzug nach Septemvri. Der nächste Zug, ein Schnellzug, besteht einschließlich des Kioskwagens komplett aus ehemaligen Reichsbahnwagen, und auch die Rangierlok in Plovdiv stammt aus volkseigener Produktion. Die deutsche Pünktlichkeit hat man jedoch nicht mit übernommen, denn er hat 30 Minuten Verspätung. In vertrauter Atmosphäre nehmen wir Abschied von Plovdiv.
Von Septemvri (zu deutsch: September) führt eine 120 km lange Schmalspurbahn hinauf ins Rhodopengebirge. Diese ist so fair uns wartet auf unseren Schnellzug. Unser spätes Erscheinen wird mit Plätzen im Vorraum des Wagens bestraft, denn die fünf kleinen Wagen sind bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Als Alternative kann man sich auch auf den offenen Wagenübergang zum vor uns dahinschaukelnden Packwagen stellen, aber ich fühle mich im Sitzen momentan durchaus wohler.
Die Fahrt ist eindrucksvoll: Durch canyonartige Felsenschluchten verläuft die Strecke und windet sich hoch oben an der Felswand Meter für Meter in die Höhe. Nur selten sind Anzeichen menschlicher Zivilisation erkennbar. Hochebenartige Landschaftsbilder folgen, unterbrochen von nicht weniger als 35 Tunnels, die unser Zug auf seiner teils aufreizend langsamen, teils mörderisch schnell erscheinenden Fahrt durchquert. Durch Kehren und Schleifen windet sich unsere Fuhre durch die einsame Bergwelt der Rhodopen, und ab Velingrad, einer der wenigen größeren Orte im Streckenverlauf, welchen wir dann wie eine Art Straßenbahn durchqueren, genießen wir sogar das Privileg eines Sitzplatzes im einzigen mit Stoffsitzen ausgestatteten Wagen. An einsamen Haltepunkten steigen Bauern und alte Mütterchen zu, um mit einem Sack Kartoffeln, einem Bündel Holz oder einer Kiste Tomaten im Gepäck einige Kilometer mit uns zu fahren. Irgendwann taucht dann die erste Moschee mit einem gleißend weiß getünchten Minarett vor dem Fenster auf.
So richtig genießen kann ich die Fahrt aber nicht. Während Tilo wie ein junger Gott umherspringt und auf den Unterwegsstationen - eine davon mit 1.267 Metern über dem Meer sogar Bulgariens höchster Bahnhof - auch diverse Fotos schießt, hänge ich motivationslos auf meiner Bank und wünsche mir nur, möglichst bald anzukommen.
Sie wird von den Bewohnern des Gebirges noch rege genutzt: Die Rhodopenbahn. |
Nach fünf Stunden Geratter und Geschaukel werde ich erlöst, und wir kommen pünktlich in Bansko an. Bezahlt habe ich für die ganze Fahrt Nichts, nur Tilo hat dem Schaffner irgendwann unterwegs einmal 5 Lewa in die Hand gedrückt. Bansko ist einer der bedeutensten Wintersport- und Höhenkurorte Bulgariens und liegt reizvoll von mächtigen Bergen umgeben in einem weiten Tal. Auf den Straßen sind hier oben fast mehr Pferde- und Eselfuhrwerke als Autos unterwegs, und Bauern treiben ihre Kühe durch die Straßen. Die ganze Szenerie erinnert mich irgendwie an Heimatfilme der 50-er Jahre, aber in echt. Der Skitourismus in Bansko hält sich im Sommer in Grenzen, und schon bald finden wir in einem der in regionaltypischer Architektur gebauten Häuser eine gepflegte Penision, wo wir für 10 Lewa pro Mann ein großes und ganz in hellem Holz gehaltenes Doppelzimmer mit Balkon beziehen.
Vom Rest des Tages habe ich leider nicht mehr viel mitbekommen. Während Tilo per pedes und per Schmalspurbahn die Stadt und ihre Umgebung erkundet, begebe ich mich bereits gegen 15.30 Uhr schnurstracks in die Falle, um diese mit Ausnahme einer Dusche auch nicht mehr zu verlassen.
Neuer Tag - neues Glück! Schlaf, viel Schlaf, ist tatsächlich die beste Medizin, und so fühle ich mich nach etwa 15 Stunden Murmeltier am nächsten Morgen wieder ziemlich fit. Nach eineinhalb Tagen das erste Essen - ein Pfirsichjoghurt - bleibt drin. Gut!
Mit kleinem Gepäck wandern wir vormittags durch das wirklich nette Städchen. Es erinnert mich irgendwie an ein österreichisches Bergdorf, wie es so in den 50-er, 60-er Jahren ausgesehen haben mag. Häuser mit weit vorstehenden Dächern prägen das Ortsbild, auf einem mit schieferplattenähnlichen Gestein gepflasterten Dorfplatz springt ein Brunnen, und zum ersten mal in meinem Leben werfe ich einen Blick in eine Moschee. Alles wirkt doch recht gepflegt, aber eben nicht so klinisch rein wie zum Beispiel im Schwarzwald oder in der Schweiz. Wie mag es hier wohl im Winter bei 4 Metern Schneehöhe aussehen? Also, in Bansko hätte ich gut noch einen Tag bleiben können.
Wir holen unser Sturmgepäck aus der Pension, nicht ohne uns zuvor reichlich mit Lebensmitteln eingedeckt zu haben, denn die kommende Nacht soll unter freiem Himmel stattfinden. In den kleinen Lebensmittelläden liegen Käse glücklicher bulgarischer Bergkühe und -ziegen mit Saft-Tetrapacks französischer Herkunft einträchtig nebeneinander im Kühlregal und dokumentieren Tradition und Globalisierung. Die Pfirsiche werden von der wohlbeleibten Verkäuferin wie wohl schon seit Großvaters Zeiten auf einer alten Waage mit Gewichten per Hand abgewogen. Eigentlich erhält man in dem kleinen Laden so ziemlich Alles, was man so zum Leben braucht. Gut, es gibt nur zwei statt der dreiundvierzig Sorten Fruchtjoghurt wie in einem gewöhnlichen deutschen Supermarkt, aber wer braucht schon dreiundvierzig Sorten Fruchtjoghurt? Mit einem immer kleiner werdenden Pfirsich in der Hand begeben wir uns am späten Vormittag so langsam zurück zum Bahnhof. Dort erstehen wir für 2 Lewa eine Fahrkarte nach Velingrad. Auf der Karte steht allerdings 1,50 Lewa - ob man uns hier bescheißen wollte? Egal, wir bescheißen zurück und fahren noch einige Kilometer über Velingrad hinaus. Süß ist die Rache des kleinen Mannes!
T: In den Schluchten des Balkan: Die Rhodopenbahn bei Dolenie. |
Auf der nun folgenden Fahrt kann ich all das nachholen, was mir in stillem Gedenken an Montezumas Rache gestern verwehrt blieb. Dies betrifft sowohl das Fotografieren an den Unterwegsbahnhöfen als auch das nun doch um Einiges freudigere Betrachten der herrlichen Berglandschaft der Rhodopen, dem geschäftigen Treiben im Zug und auf den Bahnsteigen. Unsere wacker gegen die Berge ankämpfende Lokomotive, so verkündet es das Fabrikschild, ist anno 1965 bei Henschel in Kassel zur Welt gekommen. Zu Zeiten des kältesten Krieges kauft die sozialistische Volksrepublik Bulgarien Diesellokomotiven aus der Bundesrepublik Deutschland... Scheint aber eine richtige Entscheidung gewesen zu sein, denn die 35 Jahre alten Loks machen keinen schlechteren Eindruck als ihre in den 80-er Jahren nachgebauten Schwestermaschinen aus Rumänien.
Selbstverständlich ist die Rhodopenbahn deshalb auch pünktlich, als wir gegen Mittag den Zug in Dolenie, einem winzigen Bahnhof im Scheitelpunkt einer 180-Grad-Talkehre, verlassen. Links hohe Berge, rechts hohe Berge, im Tal rauscht ein Fluss. Nur zwei, drei Häuser in der Nähe des Bahnhofes zeugen von Spuren menschlichen Lebens. Hier, im absoluten bulgarischen Hinterland, wollen wir in den nächsten Stunden inmitten der Natur alle Viere von uns strecken und nebenbei die Schmalspurbahn im Bild festhalten.
Um zum gegenüber liegenden Berghang, an welchem die Bahn die Talkehre wieder verlässt, zu gelangen, müssen wir einen kleinen, aber ziemlich schnell fließenden Fluss überqueren oder besser, in Ermangelung einer Brücke, durchwaten. Das klappt auch ohne Flutung und Verlust von Mensch oder Gepäck überraschend gut, doch stellen wir am jenseitigen Ufer zu unserem Entsetzen fest, dass wir erst auf einer kleinen Insel im Fluss gelandet sind. Bei näherer Betrachtung ist das aber doch gar nicht so dramatisch, denn die Insel ist von hohem, weichen Gras bewachsen und ein Baum spendet Schatten, so dass wir aus der Not kurzerhand eine Tugend machen und auf der Insel unser Basislager aufschlagen. So dürften wir sowohl vor Passanten - sofern hier im Hinterland vorhanden - als auch vor dem im Reiseführer genannten Getier (Wölfe, Bären) relativ sicher sein.
Den Nachmittag verbringen wir auf unserer Insel, flächenmäßig etwa so groß wie ein Einfamilienhaus, unserem kleinen Paradies, bei süßem Nichtstun, partiell unterbrochen von kurzen Ausflügen an die Eisenbahnstrecke zum Fotografieren.
Abendspaziergang in den Rhodopen: Hinaus aus dem kühlen Tunnel in die würzig-klare Luft dieser einsamen Bergwelt. |
Die heutige Bestandsaufnahme fällt wesentlich positiver aus als vor drei Tagen im Balkangebirge. Wir liegen auf einer Insel in einem Fluss mitten im bulgarischen Rhodopengebirge, und wären da nicht die in mehrstündigen Intervallen durch das Tal brummenden Schmalspurzüge, so könnte die Idylle den Anschein haben, als wären wir weit und breit die einzigen Menschen. Nur ab und zu staubt ein hoch mit Heu beladener Lastwagen über den Feldweg drüben auf dem Festland, dann treffen wir beim Fotografieren einen Jäger mit seinem Hund, und kurz vor Sonnenuntergang treibt ein Ziegenhirt seine Tiere in aller Seelenruhe auf den Bahngleisen talwärts. Dann versinkt die Sonne hinter den Bergkuppen, und schneller als von zu Hause gewohnt wird es dunkel. Die Nacht ist völlig sternenklar, und der Himmel ist so schwarz, wie ein Nachthimmel nur schwarz sein kann. Keine Lichter einer Stadt verfärben das unendliche Dach über unserer Insel, und nur ein ungewöhnlich heller Mond bestrahlt die nächtliche Szenerie, akustisch untermalt vom nie endenden Rauschen des Flusses.
Am nächsten Morgen lassen wir uns von der aufgehenden Sonne wecken, die gerade über die Bergkette im Osten hinüber lugt. Mit Pfirsichen starten wir in den Tag. Naja, starten ist übertrieben, schließlich machen wir ja gerade einen Inselurlaub. Also: wir schälen uns aus den Schnarchtüten. Noch einmal bequemen wir uns zum Fotografieren des Vormittagszuges an die Strecke, es folgen noch einmal ein paar Stunden Nichtstun, bis wir gegen Mittag ein letztes Mal den Fluss durchwaten und zum kleinen Bahnhof hinauf trotten. Dass der romantisch rauschende Bergfluss bereits aus Velingrad kommt, erfahren wir zum Glück erst später...
Die mitgebrachten Fotos von der Radebeuler Schmalspurbahn wecken die beiden träge in ihrem warmen Büro hockenden Bahnbediensteten aus ihrer mittäglichen Lethargie. Bevor wir unsere mit Händen, Füßen, Stift und Zettel geführte Konversation beenden können, kommt der Zug. Immerhin weiß man nun auch in Dolenie, dass Dresden in der Nähe von Berlin liegt.
Wie immer ist die Rhodopenbahn pünktlich und gut besetzt. Der Platz im Vorraum gereicht bei normalem Gesundheitszustand durchaus zum Vorteil: In der offenen Wagentür erlebe ich die Fahrt durch die Felsen und Schluchen nahezu hautnah. Mittendrin statt nur dabei. Gut festhalten - ein irres Fahrgefühl.
In Septemvri knipsen wir noch ein wenig im Gelände umher, neben der Schmalspurbahn unter anderem auch ausgemusterte Wagen der Deutschen Bahn AG, "Betriebswagenwerk Berlin-Lichtenberg", die im örtlichen Ausbesserungswerk der BDZ der Umlackierung bzw. der Bulgarisierung harren und demnächst in bulgarischen Schnellzügen ihren zweiten Frühling feiern dürften.
Während Tilo im Betriebswerk umher streift, komme ich mit einem Weichenwärter ins Gespräch bzw. ins Kommunizieren-mit-Händen-und-Füßen-und-Russischrudimenten, welcher mich sofort auf eine schattige Bank neben seiner kleinen Postenbude bittet. Seine Schwester arbeitet in Hamburg, und ob ich einen gewissen Detlev Sowieso kennen würde. Leider ist dieser Detlev der einzige der rund 1,6 Mio Hamburger, den ich nicht kenne. Jedenfalls arbeitet seine Schwester in Hamburg als Reinmachefrau in einem Hotel. Die Adresse seiner Schwester hat er gerade nicht griffbereit, aber morgen früh... Naja, so lange wollen wir dann doch nicht in Septemvri bleiben, und mit dem Verweis auf einen Flugtermin in Sofija verabschieden wir uns in Richtung Normalspurbahnhof.
Dort werden wir aus der kleinen heilen Schmalspurwelt abrupt wieder an die real existierenden Zustände bei der bulgarischen Eisenbahn erinnert, denn der Schnellzug nach Sofija hat satte 60 Minuten Verspätung, wie uns die Schalterbeamtin geduldig erklärt. Der nächste Zug in die Hauptstadt ist natürlich einer unserer geliebten Russentriebwagen mit den gewohnt schmierigen Sitzen und dreckigen Scheiben. Dieser lässt es sich auf seiner schaukelnden Fahrt in die Hauptstadt nicht nehmen, jede auch noch so kleine Station mit einem Halt zu beglücken und wird dabei immer voller. Zur Krönung schlagen dann noch Flammen aus einem Elektrokasten unseres Wagens, was uns aber erstaunlicher Weise schon gar nicht mehr groß anhebt. Jedenfalls bleiben wir - unser Zug brennt, na und? - auf unseren Plätzen sitzen und warten, was passiert. Da sich erwartungsgemäß kein Feuerlöscher an Bord befindet, wird der Wagen kurzerhand stromlos gesetzt, das Feuer erlischt, und mit der Kraft des vorderen Zugteils geht die Fahrt alsbald weiter, als wäre Nichts gewesen.
Der Bahnhof von Sofija ist alles Andere als eine Visitenkarte für eine Hauptstadt. Er ist schmutzig und überlaufen, es bröckelt der Beton des 60-er-Jahre-Baus in seiner monströsen sozialistischen Architektur. Dem Herdentrieb folgend laufen wir der offenbar ortskundigen Masse der übrigen Reisenden des brandfreudigen Russentriebwagens durch ein dunkles Labyrinth stinkiger Gepäcktunnel hinterher und gelangen in einer teils unterirdischen Art Passage aus Sichtbeton vor dem Bahnhof wieder ans Tageslicht. Dort ist ein bunter Markt aufgebaut, auf welchem lautstark Hot-Dogs, Bananen in gelb und schwarz, Straßenbahnfahrkarten, Schuhe und pipapo angepriesen werden.
Menschen schieben sich zwischen den Ständen umher, es duftet, es stinkt. Ich muss an unsere idyllische Insel in Dolenie zurück denken... Leider brauchen wir keine Bananen, sondern zunächst eine Unterkunft. Also steuern wir über einen staubigen, schlaglochübersääten Platz, der offenbar den Busbahnhof darstellen soll, das unübersehbar die Szenerie überragende "Palace-Hotel Sofija" gegenüber des Bahnhofes an. Das kostet aber 180 DM pro Nacht, und so lassen wir uns über die örtliche Zimmervermittlung für 40 $ ein Doppelzimmer im Stadtzentrum reservieren.
Die Taxifahrt im alten Opel Kadett kostet 2 Lewa, und schon wenige Minuten später beziehen wir ein Doppelzimmer im spätsozialistischen "Slavyanska Besseda", superzentral inmitten der Hauptstadt gelegen. Schnell eine gepflegte Notdurft verrichtet, denn die Erfahrung hat uns gelehrt, dass saubere Toiletten in Bulgarien sofort in Anspruch genommen werden sollten, da man nie weiß, wann man die Nächste zu sehen bekommt. Noch kühl geduscht, und schon bald sitzen wir in einem Gartenlokal und speisen bulgarische Nationalgerichte (behauptet zumindest die Speisekarte): Fleischeintopf mit Zwiebeln, Tomaten und Paprika, dazu Brot. Macht auch ordentlich satt.
Einer der erfreulicheren Anblicke von Sofija... |
Noch ein paar Stunden laufen wir durch die Sofijoter Sommernacht. Überall Menschen in den Parks (vor allem Liebespäärchen), auf den Straßen, in den wenigen Cafés, sogar die restaurierte Markthalle hat geöffnet. Gegensätze prallen aufeinander: Neben der Moschee sitzen westlich gekleidete Päärchen bei McDonalds und knutschen, dahinter ragt eines der mächtigen Zuckerbäckergebäude aus der Stalinarchitektur auf, ab und zu eine Bauruine. Der etwas ungute Einruck, den Sofija bei der Ankunft auf uns machte, wird hier - hoffentlich nicht nur der Dunkelheit wegen - korrigiert und macht Lust auf morgen.
Im Hotelfernseher empfangen wir Vox, leider gibt´s keine Nachrichten. Gesättigt von den Eindrücken des Tages gehen wir gegen Mitternacht in die Falle. Durch die Wärme, das Gebell umherstreunender Hunde in den Straßen und vor allem durch die wahnsinnig unbequemen Matratzen, auf denen wohl schon Dimitroff geschlafen hat und deren Federn man jede einzelne am Körper spürt, verzögert sich das Einschlafen. Lösung: Auf die Bettdecke legen - nicht so warm, und die Sprungfedern merkt man auch nicht mehr so sehr.